Liebe Freundinnen und Kolleginnen,
der Einwand, dass wir in dem Entwurf nicht berücksichtigt haben, dass Schule und Bildung sich auf die Situation in einer Einwanderungsgesellschaft einstellen muss, und dass der „Migrationshintergrund“ sich als mindestes so wichtiges Aussschließungsmerkmal erwiesen hat wie der soziale Status. Die Schnittmengen zwischen beiden sind sehr groß, aber sie gehen nicht ineinander auf. Ich habe den Entwurf daraufhin ergänzt. die ergänzten Stellen sind rot hervorgehoben.
Diskussion ist im Blog und am 21. März in Hannover möglich,
besten Gruß
Karl-Heinz Heinemann

3 Gedanken zu “Nach PISA – Schule in der Einwanderungsgesellschaft”

  • Nachdem ich die Begründung von Sabine Böddinghaus, der bildungspolitischen Sprecherin der LINKEN in der Hamburger Bürgerschaft gelesen habe, würde ich den Gedanken der Inklusion als Herausforderung, sich mit Heterogenität auseinanderzusetzen, aufnehmen. Ich denke, darin sind dann auch die Intersektionalitäten aufgehoben, die Laura anspricht. (Die Hervorhebungen der Verändedrungen lassen sich hier leider nicht darstellen..

    Nach PISA umsteuern!
    Demokratische statt wettbewerbsorientierte Schule!
    Bildung statt Kompetenzen!

    Die letzte PISA-Runde hat wieder mal geschockt. Aber geschockt waren BildungspolitikerInnen nicht so sehr von der Tatsache, dass über ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler kaum lesen und schreiben können, die Grundvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich beruflich etablieren zu können, nicht darüber, dass es Schulen für Arme und nicht so Arme gibt, dass der Schulerfolg vor allem vom sozialen Status der Eltern abhängt. Geschockt waren sie davon, dass die Schulleistungen deutscher Schülerinnen im internationalen Vergleich nur Mittelmaß seien. Wie stünde denn Deutschland im internationalen Wettbewerb da?
    Die Schere zwischen GymnasiastInnen und anderen SchülerInnen ist größer geworden, der Abstand zwischen guten und schlechten Leistungen ist gewachsen. Und am unteren Rand des Systems hat sich rein gar nichts verändert. Und das, obwohl seit 20 Jahren ständig neue Maßnahmen beschlossen werden: Ausbau von Vorschuleinrichtungen und Ganztagsschulen, Individualisierung und Inklusion im Unterricht, Vera, Iglu, IQB, TIMSS, Chancenspiegel, nationalem Bildungsbericht und regionalen Monitorings. Die einzige Antwort, die Bildungsministerin Anja Karliczek darauf einfällt: Noch mehr von der Therapie, die schon bisher versagt hat – also mehr Tests, mehr Vergleichbarkeit, mehr Standardisierung und Kompetenzraster.
    Laut PISA ist der Migrationshintergrund immer noch ein größeres Hindernis in der Bildungskarriere als der soziale Status. Obwohl schon die erste PISA-Studie auf diese Dimension der Ausgrenzung hingewiesen hat wurde daran nichts getan. Nationale und ethnische Herkunft, Sprache, Religion, Geschlecht, Behinderungen, sexuelle Orientierung – die Heterogenität der Schülerinnenschaft wächst und wird heute anders wahrgenommen – doch in den Schulen wird sie immer noch als Normabweichung empfunden. Sie wird als Ursache für das Absinken bzw. Stagnieren von Leistungsparametern genannt. Und gleichzeitig wird „Inklusion“ als Ziel beschworen. Statt Standardisierung wäre es dringend nötig, Schule und Unterricht auf diese Unterschiedlichkeiten einzustellen.
    Sicher wurden auch sinnvolle Maßnahmen ergriffen – Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung und der Ganztagsschule. Aber der Erfolg dieser Maßnahmen ist bisher gering: Vielerorts führten sie geradezu zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit: In den Stadtteilen, in denen die Eltern wohnen, die sich im politischen Raum artikulieren können, gibt es genug Kita-Plätze, in den sozialen Brennpunkten nicht, Ganztagsbetreuung ohne pädagogisch qualifiziertes Personal und ohne Konzept bewirkt keine bessere Bildungsteilhabe.
    Die Orientierung an den PISA-Standards geht an zentralen Problemen unserer Gesellschaft und unseres Bildungswesens vorbei. Was PISA nicht erfasst: Unsere Schulen haben ein Demokratiedefizit. Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen und Bildungsabschlüssen und mit nichtdeutscher Herkunft erleben sich als sozial und politisch ausgegrenzt. Sie beteiligen sich weniger an politischer Willensbildung, sie sind anfälliger für demokratiefeindliche Parolen und Organisationen.
    Die soziale, ethnische und politische Ausgrenzung ist nicht bloß ein Gefühl. Sie ist die Realität, die SchülerInnen erleben, wenn ihnen das ausgrenzende Schulsystem schon frühzeitig Chancen verbaut. Und wer glaubt, dass er in dieser Gesellschaft nichts zu sagen hat, der hat auch weniger Anlass zu sprechen, zu schreiben und sich Bildung anzueignen.
    Andreas Schleicher, bei der OECD für PISA verantwortlich, stellte schon 2005 fest: „Deutschland kommt um die Strukturdebatte nicht herum. Erfolgreiche Bildungsnationen gehen mit der Unterschiedlichkeit der Schüler konstruktiver um. Das gegliederte deutsche Schulsystem lädt dazu ein, Schüler abzuschieben, anstatt sie zu fördern.“ Man muss also kein Linker sein um festzustellen: In Deutschland wurden bisher nicht die notwendigen Konsequenzen aus PISA gezogen.
    Wir haben nach PISA den falschen Weg eingeschlagen. Wenn wir die Vertiefung der sozialen Spaltung in der Schule überwinden wollen, wenn wir, wie Comenius sagt „allen alles lehren“ wollen, müssen wir andere Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen ziehen.
    • Deshalb ist die vordringliche Aufgabe, das gegliederte Schulsystem durch eine Schule für alle zu ersetzen, das vielfältige Möglichkeiten für alle Schülerinnen und Schüler eröffnet.
    • In einem gegliederten Schulsystem wie in Deutschland sind weder Chancengleichheit noch Inklusion möglich. Alle Kinder haben ein Recht auf inklusive Bildung. Sie haben ein Recht darauf, nicht ausgesondert und nicht beschämt zu werden.
    Gymnasien können sich ihre SchülerInnen aussuchen und diejenigen „abschulen“, also der Schule verweisen, von denen sie sich überfordert fühlen. Die Folge: in den anderen, „niedrigeren“ Schulformen konzentrieren sich Kinder und Jugendliche, deren Lernchancen ohnehin schon beschnitten sind. Das Absurde: Dort konzentrieren sich auch die Lehrkräfte, die als Quereinsteigerinnen nicht oder nur unzureichend pädagogisch qualifiziert wurden. In Grundschulen, etwa in Köln, sind über die Hälfte der Lehrkräfte QuereinsteigerInnen, in gymnasialen Oberstufen sind es nur 6 Prozent.
    Erste Schritte zu einem einheitlichen, fördernden und gerechten Schulsystem sind:
    • Schulen mit besonderen pädagogischen Anforderungen aufgrund der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft müssen besonders gefördert werden. Das betrifft vor allem Schulen mit vielen Schülerinnen und Schülern aus der Migrationsbevölkerung. Sie brauchen die besten LehrerInnen, Doppeltbesetzungen in den Klassen, die besseren Schulbauten: Ungleiches ungleich behandeln.
    • Alle Schulformen müssen alle Abschlüsse anbieten, d.h.: Gymnasien werden auch von Schülerinnen besucht, die nach dem Hauptschulabschluss abgehen werden, dürfen also SchülerInnen, die sie aufgenommen haben, nicht mehr „abschulen“, andere Schulformen müssen einen ungehinderten Weg in die gymnasiale Oberstufe anbieten können. Keine Abschulungen mehr, Wege zum Abitur für alle.
    • Eltern und Schüler können ihre weiterführende Schule frei wählen. Solange die eine Schulform sich alle „ProblemschülerInnen“ vom Leibe halten können, die sich dann in den anderen Schulformen konzentrieren, wird soziale Ungleichheit in der Schule potenziert. Freie Schulwahl für Eltern und Schüler, aber keine freie Schülerwahl für die Schulen!
    • Schulen und Lehrkräfte brauchen Freiräume in der Gestaltung des Schullebens, des Unterrichts. Stattdessen bekommen sie immer mehr Standardisierungen aufgedrückt, müssen sich ständig neuen Vergleichen und Kontrollen stellen, und das Ganze wird dann noch als „Schulautonomie“ und „Individualisierung“ verkauft. Mehr Freiraum statt Standardisierung.
    • PISA und Co haben den Leistungsdruck auf die Schulen erhöht. Das Interesse am Lernen wird ebenso vernachlässigt wie die Herausbildung von Empathie, von Solidarität und Kritikfähigkeit, oder der von Leistungs- und Zensurendruck freie Austausch über die Fragen, die das Leben und die Zukunft der jungen Generation bestimmen.
    Nicht durch Noten- und Leistungsdruck werden Schülerinnen und Schüler gefördert. Junge Menschen wollen lernen, aber nicht unbedingt formal definierte „Kompetenzen“ sondern Fähigkeiten die ihnen helfen, sich die Welt von heute und morgen anzueignen. Also: Orientierung an Schlüsselproblemen statt an Kompetenzrastern!
    • Unsere Schulen gehen immer noch von einer kulturellen, sprachlichen und ethnischen Homogenität aus, die es längst nicht mehr gibt. Notwendig ist verstärkte Mehrsprachigkeit unter Einbeziehung der Migrantensprachen, ein Deutschunterricht, der alle Schülerinnen und Schülern Deutsch auf Schriftsprachniveau ermöglicht, eine Anerkennung der Kulturen der Herkunftsländer, nicht nur im Herkunftssprachenunterricht, sondern als Bestandteil des Regelunterrichts. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität soll auch für die „autochtonen“ Kinder ein Gewinn sein. All das erfordert mehr Ressourcen für Schulen und Klassen mit sprachlich und kulturell heterogener Zusammensetzung.
    • Schulen und LehrerInnen brauche mehr Selbständigkeit, um das Potential ihrer Schülerinnen und ihr eigenes besser entfalten zu können.
    • Lehrerinnen brauchen mehr Fortbildung nicht in Management-Techniken, sondern darin zu verstehen, was für ihre SchülerInnen wichtig ist und wird.
    • Allen Schülerinnen und Schülern die notwendigen Fähigkeiten mitzugeben, um am beruflichen wie dem gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, das wäre schon mal was. Aber das wird nicht reichen. Neue Lösungen angesichts des Klimawandels, des Auseinanderdriftens von Gesellschaften, die Erosion westlicher Demokratien – all das stellt neue Anforderungen auch an Schule und Bildung.

  • Liebe Laura, ich würde das Thema Migration ungern in einer Vielzahl von Diskriminierungen untergehen lassen. Ich sehe es auf einer anderen Ebene als die Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Behinderung, sexueller Orientierung und anderen Besonderungen. Zwar geht es bei Migration auch um rassische bzw. ethnische oder religiöse Diskriminierungen, die in den Auswirkungen sicher noch gravierender sind, als die etwa des Geschlechts – schließlich haben wir seit Jahren einen höheren Frauenanteil unter den Abiturientinnen. Was natürlich nicht bedeutet, dass es keine Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts gibt.
    Ich würde gern deutlich machen, dass es nicht nur um mentale Diskriminierungen geht, sondern um strukturelle Ausgrenzungen. Einen sehr guten Ansatz dazu sehe ich in dem Gesetzentwurf der Hamburger Fraktion der Linken zu einem inklusiven Schulgesetz. https://www.linksfraktion-hamburg.de/schulgesetz/
    Der bezieht sich zwar in seiner Begründung sehr stark auf die UN-Behindertenrechtskonvention, aber im Prinzip geht es bei ihm um die Aufhebung sämtlicher Ausgrenzungen und die Förderung aller. Wir sollten unseren Entwurf noch einmal im Hinblick darauf überprüfen und überarbeiten.

  • Ich finde den Einwand von Thomas Jaitner sehr richtig. Statt jetzt allerdings das Thema institutioneller Rassismus zusätzlich zu sozialem Status in den Text einzubauen und alle weiteren Gründe für Diskriminierung in unserem Schulsystem außen vor zu lassen, sollte die Intersektionalität der verschiedenen Diskiminierungsformen berücksichtigt werden. Dazu gehört, dass Lehrkräfte für diskriminierende Handlungsmuster sensibilisiert und über ihre strukturelle Dimension aufgeklärt werden. Noch immer gibt es an deutschen Schulen Diskriminierung: Augrund einer Behinderung, aufgrund des Geschlechts, aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Tatsache, dass man von den eigenen LehrerInnen als „nicht-deutsch“ gelesen wird. Die Ausgrenzung, die Schüler*innnen erfahren, ist nicht nur sozialer und politischer Natur, sie ist auch rassistisch und sexistisch. Und vor allem sind all diese Dimensionen nicht einfach voneinander trennbar oder auf den sozialen Status reduzierbar.

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