Offener Brief von ErziehungswissenschaftlerInnen an die KMK vom 20. April 2020

 

Die Corona Krise ist für alle Schulen und besonders für Eltern und Schüler*innen eine
große Herausforderung. Viele haben sie bis jetzt mit hohem Engagement, kreativen
Lösungen und viel gutem Willen bewältigen können. Das gilt allerdings nicht für alle:
Besonders schwerwiegend wirkt sich die Krise für Kinder und Jugendliche aus sozial
benachteiligten Lebensverhältnissen aus. Von Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen
und zivilgesellschaftlichen Organisationen wird öffentlich die begründete Sorge
geäußert, dass diese Schüler*innen „abgehängt“ werden. Es fehlen vielfach nicht nur
die erforderlichen digitalen Geräte und der Internetzugang. Vor allem sind die
Möglichkeiten der familiären Unterstützung eingeschränkt, denn nicht alle Eltern
beherrschen das in Schule geforderte Deutsch und sind vertraut mit den
Bildungsinhalten. Seit Wochen fehlen nicht nur die schulischen Lerngelegenheiten,
sondern auch die alltägliche deutsche Sprachpraxis. Mit jedem Tag Abstand zur
Schule wächst in ihrem Lernstand die Differenz zu denjenigen, die Tag für Tag an den
von der Schule vorbereiteten Lernaufgaben arbeiteten, dabei technisch, emotional und
fachlich unterstützt von ihren Eltern.
Uns ist bewusst, dass es viele gute Gegenbeispiele gibt: Schulen, die den Kindern die
Lernmaterialien vor die Tür bringen, Lehrkräfte, die die Jugendlichen am Handy
persönlich beraten etc. Das strukturelle Problem wird dadurch gemildert, aber nicht
gelöst.
Deshalb appellieren wir an Sie als verantwortliche Ministerinnen und Minister: Finden
Sie eine Lösung, mit der diese Kinder und Jugendlichen bei einer schrittweisen
Öffnung der Schulen bevorzugt berücksichtigt werden. Da ohnehin nicht alle
Schüler*innen gleichzeitig in die Schule zurückkehren können, sollte zunächst vor
allem denjenigen Kindern und Jugendlichen der Schulbesuch ermöglicht werden, die
eine besondere Unterstützung benötigen. Sie sollten die Chance bekommen, auch vor
der offiziellen Öffnung für alle Schüler*innen in den Räumen der Schule beim Lernen
von Lehrkräften betreut zu werden. Eine solche Maßnahme wäre rechtlich eine
„erweiterte Notfallbetreuung“, die auf der Freiwilligkeit der Teilnahme beruhen müsste.
Die Pädagog*innen wissen vermutlich recht genau, wen sie in den letzten Wochen mit
ihren Lernangeboten nicht oder kaum erreichen konnten, und auch viele Eltern aus
benachteiligten Verhältnissen können dies einschätzen. Beratungseinrichtungen und
die Jugendhilfe können unterstützen. Mit unserem Vorschlag wären an vielen Schulen
kleinere Lerngruppen gesichert. Damit ließen sich die Abstandsregeln einhalten. In
manchen Schulen und Stadtteilen wären vermutlich auch ganze Klassen betroffen.
Hier wären zeitlich versetzter Unterricht und/oder Unterricht an außerschulischen
Lernorten denkbar. Dabei müssten die Verantwortlichen vor Ort mit ihrer Kompetenz
und Erfahrung einbezogen werden. Sie kennen die Bedarfe und Möglichkeiten an den
Schulen am besten. Das gilt insbesondere auch für Möglichkeiten der
Ganztagsbetreuung. Allerdings brauchen sie dazu unterstützende
Rahmenbedingungen.
Manche der Eltern, deren Kinder noch länger nicht die Schule besuchen dürfen,
werden eine solche Regelung möglicherweise als Benachteiligung empfinden. Die
Maßnahme sollte deshalb für den Zeitraum gelten, bis alle Kinder und Jugendlichen
die Schulen wieder besuchen können. Sie bedarf darüber hinaus einer überzeugenden
Kommunikation: Es geht um mehr Bildungsgerechtigkeit. Wir gehen davon aus, dass
eine solche Entscheidung bei vielen Menschen in Deutschland auf hohe Akzeptanz
stoßen wird.
Unabhängig von dieser kurzfristigen Maßnahme bedürfen die Kinder und
Jugendlichen, die durch ihre gesellschaftlich bedingten Lebensverhältnisse
benachteiligt werden, auch mittelfristig weiterhin gezielter Unterstützung und
zusätzlicher Lerngelegenheiten. Dafür sollte kurzfristig „nach Corona“ auf positive
Erfahrungen und kreative Lösungen einzelner Schulen und der
Unterstützungssysteme während der letzten Wochen zurückgegriffen werden.

Unterzeichner*innen des offenen Brief an die KMK 20. April 2020
Frau Prof. Dr. Isabell van Ackeren, Universität Duisburg-Essen
Frank Ahrens , Schulleiter der Jenaplanschule, Jena, Schulpreis 2016
Siegfried Arnz, Leitender Oberschulrat /ehemaliger Abteilungsleiter Berlin i.R.,
Entwicklungsnetzwerk für „Schulen in kritischer Lage“ der Robert Bosch Stiftung
Prof. Dr. Jürgen Baumert
Prof. Dr. Gabriele Bellenberg, Lehrstuhl für Schulforschung und Schulpädagogik,
Ruhr Universität Bochum
Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel, TU Dortmund und Mitglied im Programmteam der
Deutschen Schulakademie
Prof. Dr. Nina Bremm, Professur für Schulentwicklung, Pädagogische Hochschule
Zürich
Heinrich Brinker, Schulleiter der Grundschule auf dem Süsteresch, Schulpreis 2016
Helmut Dreher, Schulleiter am Evangelischen Firstwald- Gymnasium, Mössingen,
Schulpreis im Jahr 2010
Angela Dombrowski, Schulleiterin der Sophie-Scholl-Schule Bad
Hindelang/Oberjoch, Deutscher Schulpreis 2010
Thilo Engelhardt, Schulleiter Waldparkschule Heidelberg, Schulpreis 2017
Tim Hagener, Schulleiter der Max Brauer Schule, Hamburg, Schulpreis 2006;
Mitglied im Sprecherteam des Schulverbunds ‚Blick über den Zaun‘
Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels, Institut für Schulentwicklungsforschung, TU
Dortmund
Dr. Petra Hoppe, Schulleiterin der IGS List, Hannover, Schulpreis im Jahr 2018
Prof.i.R. Dr. Marianne Horstkemper, Universität Potsdam
Prof. Dr. Stephan Gerhard Huber, Leiter des Schul-Barometers zur aktuellen
Schulsituation (www.Schulbarometer.net) und des Instituts für Bildungsmanagement
und Bildungsökonomie IBB der PH Zug
Cornelia von Ilsemann, ehemalige Vorsitzende des Schulausschusses der KMK,
Entwicklungsnetzwerk für „Schulen in kritischer Lage“ der Robert Bosch Stiftung
Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Interkulturelle Bildung, Universität Bremen
Univ.-Prof. Dr. Esther Dominique Klein, Professur für Schulentwicklungsforschung
und Leadership, Universität Innsbruck
Prof. Dr. Dagmar Killus, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Hamburg
Prof. i.R. Dr. Klaus Klemm, Fachbereich Bildungswissenschaften, Universität
Duisburg-Essen
Prof. i.R. Dr. Eckhard Klieme, DIPF|Leibniz Institut für Bildungsforschung und
Bildungsinformation, Frankfurt und Berlin
Prof. Dr. Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-
Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN)
Prof. Dr. Kai Maaz , Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für
Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt und Berlin
Volker Masuhr, Schulleiter Waldschule Flensburg, Schulpreis 2015
Andrea Moser, Grundschule Süd, Landau, Schulpreis 2010
Prof. Dr. Anand Pant, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu
Berlin
Miriam Pech, Schulleiterin der Heinz Brandt Schule, Berlin, Schulpreis im Jahr 2011
Martin Plant, Schulleiter Jenaplanschule Rostock, Schulpreis im Jahr 2015
Andrea Rahm, im Schulleitungsteam der Sophie-Scholl-Schule Bad
Hindelang/Oberjoch und Mitglied im Programmteam der Deutschen Schulakademie
Sebastian Raphael, Schulleiter der Montessori-Oberschule Potsdam, Schulpreis im
Jahr 2007
Prof. Dr. Anne Sliwka, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Heidelberg,
Mitglied im Programmteam der Deutschen Schulakademie
Gunda Ruge-Strudthoff, Schulleiterin der Schule Borchshöhe, Bremen, Schulpreis im
Jahr 2017
Prof. i.R. Dr. Klaus Jürgen Tillmann, Universität Bielefeld.
Hans Martin Utz, Schulleiter der Gesamtschule Ost, Bremen, Schulpreis 2018
Michael Voges, ehemaliger Staatsrat in der Behörde für Schule und Berufsbildung,
Hamburg
Sybille Volkholz, Vorsitzende des Fachbeirats Inklusion Berlin und ehemalige
Schulsenatorin in Berlin
Frank Wagner, Schulleiter der Gebrüder-Grimm-Schule, Hamm, Schulpreis 2019
Wilhelm Windmann, Schulleiter der Berufsbildenden Schulen Osterholz-Scharmbeck,
Schulpreisnominierung 2015 und 2017

Offener Brief an die KMK2

2 Gedanken zu “Erstmal nur die benachteiligten SchülerInnen zurückholen!”

  • Kommentar von Bernhard Nolz, Siegen:
    ich wage es kaum, angesichts der unterzeichneten Kompetenz, meine 40-jährigen Schulerfahrungen und die Erkenntnisse aus 15-jähriger ehrenamtlicher pädagogischer Arbeit im Dunkelcafé Siegen, einem Lernort für Inklusion, zu dem Offenen Brief an die KMK vom 20. April 2020 vorzubringen.
    M.E. ist es ein totaler bildungspolitischer Irrweg, besonders benachteiligte Schüler*innen in der Corona-Krise als besonders förderungswürdig ansehen zu wollen. Dieses Ansinnen setzt voraus, dass diese Schüler*innen-Gruppe zunächst mal als eine solche diskriminiert werden muss. Oder anders gesagt, die „Benachteiligten“ müssen sich erst mal selbst als solche erklären – oder noch schlimmer: Sie werden von den Lehrer*innen als Benachteiligte diskriminiert. In einem demokratischen, inklusiven und Menschen-gerechten Schulsystem eine Unmöglichkeit.
    Die Forderung muss doch lauten, dass die Schule – Corona hin oder her – allen Schüler*innen ohne jegliche Diskriminierungen oder Selektierungen (von denen es viel zu viele gibt) zur Verfügung steht. Wenn die Schulpflicht, als Verrechtlichung des Menschenrechts auf Bildung, der Beliebigkeit unterworfen wird, und genau das tut die NRW-Landesregierung gerade und redet der Offene Brief nach meinem Verständnis das Wort, dann müssen wir dafür kämpfen, dass alle Schüler*innen eine ihnen angemessen Bildung erfahren. Das ist der Abschied vom deutschen System der permanenten Schüler*innen-Selektion (nach Schularten und Leistungskursen usw.) und der Anpassung an Bildungsinhalte, die nicht demokratisch legitimierbar sind, z.B. Betriebswirtschaft.
    Die Unterzeichner*innen des Offenen Briefes tun so, als wäre ein Bildungserwerb von Schüler*innen unter Corona-Bedingungen möglich. Das ist nicht der Fall. Soziale, innovative und produktive Lernprozesse, also Bildungsprozesse, sind mit Maskierungen, im 2m-Abstand oder mit Schultoiletten ohne ständig anwesendes Reinigungspersonal ebenso undenkbar, wie ein Schulleben ohne Menschen mit sozialpädagogischer, psychologischer und gesundheitserzieherischer Kompetenz, auf die die Schüler*innen sich verlassen können. Nur die LINKE kann diesen Forderungen Nachdruck verleihen.
    Schon alleine das Prozedere einer suksessiven Wiedereröffnung der Schulen spricht jeglichem Menschenrechtsanspruch auf gemeinschaftliche Bildung Hohn und kann nicht akzeptiert werden. Es muss vielmehr erreicht werden, „die alten Zöpfe“ der Schule endlich abzuschneiden, z.B. das Sitzenbleiben, die Abschlussprüfungen, die Wirtschaftsorientierung, der Klassenverband.
    Der Corona-Zwang zur Isolation auf eine Zweier- bzw. Familienkonstellation hat vor Augen geführt, wie wichtig ein inklusives Bildungssystem geworden ist. Wenn alle in der einen Schule sind, ergänzen sich familiäre, gemeinschaftliche, schulische und soziale Strukturen zugunsten aller, die am Bildungserwerb direkt und indirekt beteiligt sind. Mit anderen Worten: In der einen Schule für alle können Unterstützungsmöglichkeiten für benachteilte oder behinderte Schüler*innen viel leichter ausgeglichen bzw. organisiert werden.
    Letztlich ist es so, dass die Annahmen, von denen die Verfasser*innen des Offenen Briefes ausgehen, nämlich dass eine „Corona-Bedrohung“ bestünde, von den Regierenden selbst z.Z. in Frage gestellt werden. Daraus folgt, dass ich es für sinnvoll erachte, dass die Unterzeichner*innen des Offenen Briefes Daten und Berichte zusammen tragen und Perspektiven entwickeln, wie ein neues Bildungssystem auf Grund der Corona-Erfahrungen aussehen könnte.

    • Kommentar von Karl-Heinz Heinemann:
      Der Einwand der Diskriminierung kam auch in unserer Diskussion. Ich persönlich halte ihn nicht für stichhaltig. Natürlich müssen LehrerInnen diskriminieren im strengen Wortsinn, d.h. unterscheiden, müssen je individuelle Stärken und Schwächen feststellen und ihr Handeln darauf abstellen. Und sie sollten wissen, welche Schülerin nicht nur wegen möglicher Lerndefizite, sondern auch wegen des fehlenden sozialen Ortes Schule besonders leidet, etwa weil sie auf soziale Beziehungen außerhalb der Familie aus unterschiedlichsten Gründen besonders angewiesen ist.
      Du hast recht, dass eine Diskriminierung – Du hast Anrecht auf Schule und du nicht – mit der Schulpflicht und dem Recht auf Schule nicht vereinbar ist. Durch die Schulschließungen und das nun geforderte Hygieneregime sind Recht und Pflicht außer Kraft gesetzt worden. Über einzelne Maßnahmen sollte man mit Recht streiten können, aber ich halte die Pandemie für real und keine verschwörerische Erfindung.
      Dass Lernen und Bildung unter diesen Bedingungen nicht möglich seien halte ich für schlichtweg falsch. Wir sollten die Schule als Ort von Lernen und Bildung nicht überschätzen. Wir werden vorschlagen, Studierende als Lernbegleiterinnen einzusetzen – und ihnen damit auch eine alternative Erwerbsquelle zu eröffnen – und Schülerinnen wieder in kleinen Gruppen zusammen kommen zu lassen. Also die Corona-Krise auch als Möglichkeit sehen, zu gar nicht so neuen, aber vernachlässigten Formen von Lernen und Bildung jenseits des Klassenunterrichts auf der einen und dem isolierten Lernen vorm Computer auf der anderen Seite zu kommen, und Abschied zu nehmen von Prüfungsritualen, Lehrplänen etc.

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