Ein Schuljahr in der Pandemie – was tun?

Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen und Wege.

Seit Beginn dieses Schuljahres steht die Arbeit von Schulen unter besonders erschwerten
Bedingungen. Seit November wird über Schulschließungen geredet, seit Dezember sind die Schulen
zu. Der Zustand dürfte bis März oder länger anhalten und kann sich wiederholen, wenn
angriffslustigere Viren sich auch in Deutschland rasant breitmachen. Der Sommer wird keine
Entlastung bringen, sonst gäbe es die derzeit in Brasilien und Südafrika.

Das bedeutet, dass das Lernen in der Schule unter längerfristig anderen, ungewohnten Bedingungen
stattfinden muss. Und wir wissen auch schon, dass Kinder und Jugendliche mit schlechteren
Lernbedingungen und Lernvoraussetzungen deutlich größere Nachteile haben, als Lernende mit guter
Unterstützung zu Hause. Da hilft auch der Spruch nicht, dass es so schlimm nicht sei. Im Durchschnitt
war der Teich auch nur einen halben Meter tief…hat der Kuh nicht geholfen!

Hinzu kommt, dass die Schulen sehr unterschiedlich in der Lage sind, in der Pandemie angemessene
Materialien und Lernstrategien zur Verfügung zu stellen und zu bedienen. Es ist damit zu rechnen,
dass die Lernerfolge nicht nur angesichts ungenügender individueller Lernvoraussetzungen weit
auseinandergehen, sondern auch von Schule zu Schule, ja von Klasse zu Klasse und nicht nur, wie
sonst alljährlich beklagt, von Land zu Land.

Diese extreme Ungleichzeitigkeit und Differenziertheit von Fähigkeiten und Voraussetzungen trifft
auf die hartnäckigen Bemühungen der Administrationen – und auch auf hartnäckige
Erwartungshaltungen in der Gesellschaft und bei nahezu allen Beteiligten – irgendwie am Ende den
Eindruck von Normalität zu erwecken und eben dies zur Grundlage des politischen Handelns zu
machen.

Das ist leider auch unter linken Bildungsmenschen und in ihrem politischen Agieren weit verbreitet.
Die Suche nach zusätzlichen Unterstützungssystemen mit dem Ziel, die erkannten Defizite möglichst
auszugleichen, ist noch das Akzeptabelste. Aber die scheinbar großzügigen Angebote, Prüfungen ein
paar Wochen nach hinten zu schieben oder gleich die Nachholtermine zu nutzen, sind nur hilfloses
Geplänkel und werden nichts nützen außer dabei zu helfen, das überholte und nicht nur für Notzeiten
untaugliche Schulsystem selbst in der Pandemie am Leben zu erhalten. Besonders bezeichnend: die
Abiturprüfungen werden aufrechterhalten, auf den mittleren Schulabschluss kann man zur Not
verzichten. Es ist doch überdeutlich, welcher Bildungsansatz dahintersteckt. Wem das nicht auffällt,
dem oder der ist nicht mehr zu helfen.

Für Linke muss gelten: Es kommt nicht nur in dieser Situation auf das Lernen an, nicht auf das Prüfen.
Das konservative Bildungssystem mit allen seinen bürokratiedominierten Maßstäben und
Verordnungen stellt das Lernen auf den Kopf. Gelernt wird vor allem für Prüfungen. Das ist immer
falsch, jetzt besonders.

Während das Mutterland der elitären Prüfungseuphorie für dieses Jahr alle Abschlussprüfungen
aussetzt, halten in Deutschland von rechts bis links alle daran fest. Das Argument dafür sind die
(gesellschaftlichen) Erwartungshaltungen und die Sorge, die Generation der jetzt Lernenden könnte
benachteiligt werden. Wenn diese Maßstäbe nicht geändert werden, ist das aber eine
selbstvollziehende Prophezeiung. Darum muss man die Maßstäbe infrage stellen. Jetzt!

Solange aber das Bildungssystem nur von der vermeintlichen Unersetzbarkeit der Prüfungen heraus
gedacht wird, können nur neoliberale Lösungen – ggf. mit angepassten Fristenlösungen und ggf.
einigen sozialen Hilfestellungen erreicht werden. Selbst dann, wenn hier vielleicht am Ende der einzig
mögliche Kompromiss in einer Gesellschaft mit einem grundkonservativen Bildungsverständnis liegt,
das sich aus den Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Ständegesellschaft speist – DIE LINKE
muss diese Situation nutzen, um andere Wege einzuklagen und wenigstens vorzuschlagen. Wenn wir
das nicht machen, dann können wir eigentlich einpacken. Wir kommen sonst langfristig aus diesem
konservativen Bildungsverständnis nicht heraus. Wir würden es selbst weiter verfestigen.

Dabei wissen wir seit Finnland, dass die mutigsten und von uns stets bejubelten Systemveränderungen
in Notzeiten entwickelt wurden. Das ist heute auch hier so! Ich rufe alle, die Bildung anders denken,
auf: Lasst uns die Chance nicht vertun. Auch wenn DIE LINKE in einigen Ländern in
Regierungsverantwortung steht und nicht alles umsetzen kann, weil die Koalitionspartner nicht
mitspielen: wir müssen eine Tür aufstoßen, die schon angelehnt ist bevor sie wieder ins Schloss fällt.
Mehr noch: wenn wir diese Chance verschlafen oder aus Ängstlichkeit nicht ergreifen, machen wir uns
mitschuldig an den jahrelangen Versäumnissen der Politik, deren Untauglichkeit gerade jetzt in der
Pandemie offen zutage tritt und auf dem Rücken der Lehrenden und Lernenden ausgetragen wird.
Die Lernbedingungen sind heute für viele Schülerinnen und Schüler weitab von dem, was sie kennen.
Nicht alle erhalten die Unterstützung, die sie brauchen, nicht die Qualität der Lernaufgaben, an denen
sie wachsen können. Lernzeit bricht für viele weg und das massiv. Das verlangt eigentlich, andere
Lernstrategien zu entwickeln oder, soweit schon vorhanden, anzuwenden. Auch das ist aber sehr
unterschiedlich ausgeprägt.

Wenn man nicht weitermachen will, wie gehabt, gibt es nur zwei Alternativen: Lernstoff auf das
Notwendigste einschränken – das entwertet das Abitur im konservativen Verständnis auch – oder
Lernzeit verlängern. Ich wäre für das Zweite!

Was wäre denkbar?

1. Wir bestehen auf dem Grundsatz: es geht ums Lernen, nicht ums Prüfen. Alle Abschlussprüfungen
werden für dieses Jahr ausgesetzt. Abschlusszeugnisse, die für die Aufnahme eines Studiums oder
einer vollzeitschulischen Ausbildung benötigt werden (für Bewerbungen um eine Lehrstelle sind sie
laut BBiG ohnehin nicht nötig) werden durch Worteinschätzungen oder andere Verfahren ersetzt –
zum Beispiel könnte das Zeugnis der 9., 11. oder 12. Klasse als Bewerbungsgrundlage dienen.

2. Klassenarbeiten und Klausuren werden nicht geschrieben. Gelegentliche Tests dienen nur der
Einschätzung des Lernerfolges und für die Initiierung notwendiger Unterstützungsmaßnahmen.

3. Wenn man auf Abiturprüfungen nicht verzichten kann und will: Zentralabitur aufheben. Keine
zentralen Aufgaben, vielmehr werden die von den Schulen gestellt – je nach absolvierten
Lerngegenständen. Das setzt gegenseitige Anerkennung in allen Ländern voraus.

4. Das Schuljahr 2020/21 wird nicht aufgehoben und es gibt kein freiwilliges Sitzenbleiben oder
Rückstellungen oder wie immer man das bezeichnen will. Schon gar nicht vor allem für vermeintlich
sozial Schwache oder Kinder aus sogenannten Problemvierteln. Das Schuljahr wird einfach nach den
Sommerferien fortgesetzt, ohne Versetzung. Dabei können Erfahrungen aus der flexiblen
Schuleingangsphase genutzt werden. Zwei Schuljahre werden zusammengelegt und in bis zu drei
Jahren durchlaufen. Wer den Lernstand für das nächste Schuljahr erreicht hat, kann seine Prüfungen
ablegen (dezentral) oder in das darauffolgende Schuljahr aufrücken – so er oder sie will. Möglich wäre
auch die Fortführung des Schuljahres bis zum Halbjahr, dann Beginn des neuen Schuljahres (2×1,5
Schuljahre).

5. Alle Lehramtsstudierenden gehen in die Schulen. (1-2 Praxissemester). Nichtanrechnung auf die
Regelstudienzeit. Eventuell Anrechnung auf das Referendariat.

6. Intensive Arbeit in Zusammenarbeit mit Hochschulen und Landesinstituten für Fort- und
Weiterbildung für die Entwicklung didaktischer Strategien für online-, Hybrid- und Wechselunterricht
(kann als Studiengegenstand für Lehramtsstudierende anerkannt werden).

7. (Freiwillige) Lehrerarbeitszeitkonten einführen, die nach 2025 abgegolten werden können (da sind
Rückgänge bei den Schülerzahlen zu erwarten – Echoeffekt im Osten) oder – vielleicht noch besser –
für einen früheren Renteneintritt gutgeschrieben werden.
Das sind nur einige Ideen. Sicher gibt es mehr, vielleicht andere. Aber:
Nur ein mutiger Schritt zu ungewöhnlichen Maßnahmen kann aus dem Dilemma helfen. Alle tradieren
Wege entwerten sich gerade. Wir sollten in der Lage sein, wenigstens eine denkbare Alternative
dagegen zu setzen. Wenn nicht wir, wer dann?
Magdeburg am 03.02.2020

Rosi Hein ist seit vielen Jahren Politikerin in der Partei Die Linke und beschäftigt sich vor allem mit dem Thema Bildung.

Kommentar und Ergänzung von Anne Ratzki:

Benachteiligte Kinder könnten durch bezahlten Einsatz von Studierenden individuelle Hilfe erhalten; damit wäre auch Studierenden geholfen, deren Jobs verloren gegangen sind. und als Doppelbesetzung gehen weiter, ich finde sie sehr gut und wichtig.

Studierende sollten auch als Doppelbesetzung vor allem in Klassen von Schulen mit gemeinsamem Lernen und Inklusion eingesetzt werden.

Prüfungen: Bedenkenswert finde ich die Überlegungen zu Prüfungen. Gerade die Leistungen im laufenden Schuljahr dürften erheblich unterschiedlich sein, weil die Schüler*innen so unterschiedliche soziale Bedingungen beim Homeschooling erleben. Noten, die sich auf die Leistungen im Schuljahr beziehen, dürften nicht viel gerechter sein als Noten aus Abschlussprüfungen.

Mein Vorschlag wäre, die freiwillige Wiederholung von Prüfungen zu fordern. Ich kenne das aus Finnland: Dort melden sich Schüler*innen zu Prüfungen (auch Abitur) , wenn sie sich sicher sind, dass sie den Stoff beherrschen. Und wer mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, kann die Prüfung wiederholen.

Das hat den Vorteil, dass nicht alle zur gleichen Zeit dasselbe leisten müssen, sondern nach individuellen Lernmöglichkeiten sich zur Prüfung melden können.

14.2.21

Anne Ratzki ist ehemalige Schulleiterin und kämpft seit Jahrzehnten gegen soziale Ungleichheit und für ein gerechtes Schulsystem für alle.

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