In Berlin haben sich Schülerinnen und Schüler zusammengeschlossen, um gegen die geplanten Abiturprüfungen zu protestieren und auf ihre Lage in der Corona-Krise aufmerksam zu machen. Auch eine Petition gibt es – wie übrigens auch von vielen anderen Schüler*innen aus ganz Deutschland, die klar machen, dass unter Corona keine regulären Abschlussprüfungen stattfinden können. Der Gesprächskreis unterstützt die Forderungen und teilt deshalb hier den Offenen Brief der Schüler*innen aus Berlin, der 20.01.21 übergeben wurde:

Forderung des Durchschnittsabiturs

„Sehr geehrte Damen und Herren,

mit diesem Brief wendet sich der Abiturjahrgang 2021 der Berliner Schulen an unsere Politiker*innen,Schulleitungen, Lehrkräfte, die Elternschaft sowie an die betroffenen Schüler*innen. Wir fordern dieAnpassung der Abiturprüfungen an die aktuellen Herausforderungen der Corona-Krise in Form desDurchschnittsabiturs.Zweifellos stellt die aktuelle Lage eine Ausnahmesituation für uns alle dar. Daher möchten wir unseren Dank vorab all jenen aussprechen, die sich durch ihr vielfältiges Engagement und unentbehrlichesKrisenmanagement seit Monaten bemühen, die Auswirkungen der Pandemie für die Schüler*innenBerlins so erträglich wie möglich zu gestalten. In den vorangegangen konstruktiven Diskussionen innerhalb der Schulgemeinschaften sowie imAustausch mit den Schulämtern zeigte sich deutlich, dass die Zusammenarbeit betroffenerSchüler*innen mit Entscheidungsträger*innen fruchtbar für die Erarbeitung von Alternativvorschlägenist. Ebenjene Zusammenarbeit ist nun wichtiger denn je, um eine angepasste und gerechteDurchführung des Abiturs für alle Schüler*innen des Abiturjahrgangs zu garantieren. Der Erwerb der Hochschulreife symbolisiert – besonders in Krisenzeiten wie diesen – dieChancengleichheit und die Vergleichbarkeit von Leistungen.Letztere ist aufgrund der erschwerten Voraussetzungen unseres Abiturjahrgangs im Vergleich zufrüheren Abschlussjahrgängen nicht möglich. Selbstverständlich waren weder die Bildungsministeriennoch die Schulen auf eine derartige Situation vorbereitet und gerade durch die Abruptheit derVeränderungen lassen sich viele Versäumnisse der Politik und daraus resultierende Nachteile desAbschlussjahrgangs nachvollziehen. Diese Nachteile müssen skizziert und in derEntscheidungsfindung (zugunsten einer gerechten Lösung) einbezogen werden.Obgleich ein gewisser Leistungsdruck und das damit verbundene Stressempfinden durchausbekannte Phänomene in den Qualifikationsphasen sind, übersteigen die diesjährigenHerausforderungen klar die, der Jahre zuvor:Die finanzielle Ungewissheit vieler Familien, besonders solcher, die ihre Existenzgrundlagenverloren haben oder drohen, in naher Zukunft zu verlieren, belastet tausende betroffeneSchüler*innen. Daraus resultierende familiäre Probleme führen nicht selten zu einer Verschärfung der Situation.

Der Verlust und die Erkrankung von Familienmitgliedern an SARS-CoV-2 verstärken dieBelastung. Für Schüler*innen, die selbst erkrankten oder als Teil der Risikogruppen in ständiger Sorgeleben, war es und ist es noch immer schwer, gleichermaßen am Unterricht teilzunehmen. DieUnterstützung der Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen war, trotz der deutlich höherenBelastung, nicht immer gewährleistet. Zudem kann und wird online nicht dieselbe Hilfe geboten. VieleSchüler*innen können außerdem nicht über ihre Situation oder gar familiäre Angelegenheitenerzählen, wenn ihre Familien in unmittelbarer Nähe sind. Vielerlei Angebote, die Schüler*innen invorigen Jahren halfen, mit Stress umzugehen, beispielsweise Sportvereine, Musikschulen,Fitnessstudios, Jugendtreffpunkte, etc., sind zurzeit geschlossen. Durch den fehlenden Abbau vonStress ist es daher für viele noch schwerer, mit der sozialen Isolation, Überforderung imOnline-Unterricht, finanziellen Sorgen, familiären Problemen und gegebenenfalls dem Tod oder derErkrankung ihrer Familienmitglieder umzugehen. Aufgrund der enormen Belastung, in dermomentanen Ausnahmesituation, ist es den Schüler*innen nicht zumutbar, verpflichtend an denAbiturprüfungen teilzunehmen.Auch die Schulen wurden durch die notwendigen Covid-19-Maßnahmen innerhalb kürzester Zeit miteiner Vielzahl an neuen Problemen konfrontiert. Entsprechend hatten weder die Lehrkräfte noch dieSchüler*innen Zeit, sich auf den Umbruch im Lehren und Lernen ausreichend vorzubereiten.

Anfänglich verfügten eine Großzahl an Schulen beispielsweise über keine oder nicht(ausreichend) funktionierende Lernplattformen. Des Weiteren fehlten auf Seite der Schülerschaft undder Lehrkräfte die notwendigen Kompetenzen für eine sichere und effektive Nutzung. VieleSchüler*innen besaßen zudem vor allem in der ersten Phase der Schulschließungen keine geeignetenEndgeräte oder stabile Internetverbindungen und waren somit stark benachteiligt. Das Herausfalleneinzelner Schüler*innen machte es wiederum noch schwieriger für die Lehrkräfte, den Unterricht imangemessenen und gerechten Maße durchzuführen.Obwohl die Fortschritte, die seit der anfänglichen Ausstattungskrise gemacht wurden,beachtlich sind, sind sie doch im Schulkontext keineswegs ausreichend. Insbesondere dieAbiturvorbereitung leidet unter diesen Defiziten.Selbst elf Monate später verläuft das Lernen von zuhause bedauerlicherweise immer nochalles andere als reibungslos für die Abschlussjahrgänge. Die verbreiteten Lernplattformen wie„itsLearning”, „HPI Schul-Cloud” und „IServ” sind regelmäßig vollkommen überlastet. Dadurch kannder Fernunterricht stunden- und teilweise tagelang nicht durchgeführt werden. Aufgrund der fehlendenVorhersehbarkeit dieser Ausfälle sind Lehrer*innen teilweise täglich damit überfordert, den Unterrichtumstrukturieren zu müssen. Häufig haben sie beim Umstruktieren keinen Erfolg. Außerdem sind die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Lehrenden und Lernendenaufgrund der fehlenden digitalen Kompetenzen und Möglichkeiten immer noch stark eingeschränkt.

Invielen Fällen sind diese gar nicht vorhanden. Zahlreichen Familien ist es noch immer nicht möglich,ihre technische Ausstattung, Endgeräte und Internetverbindungen, der Situation im erforderlichen Maße anzupassen. Auch haben nicht alle Schüler*innen das Privileg eines eigenen Zimmers odereiner ruhigen Umgebung, sodass die Teilnahme am Unterricht erschwert und ihreKonzentrationsfähigkeit belastet wird. Dies wirkt sich automatisch negativ auf die Abiturvorbereitungaller Schüler*innen aus. Da sozial benachteiligte Abiturient*innen von diesen Nachteilen inbesonderem Maße betroffen sind, wird die bestehende soziale Ungerechtigkeit verstärkt. Diese Umstände resultieren unweigerlich darin, dass die Chancengleichheit dieses Jahrgangsso wenig gegeben ist wie noch nie.Dies zeigt sich auch an der schieren Menge des verpassten Unterrichtsstoffes. Durch die Covid-19-Maßnahmen kam es zu zahlreichen Lehrkräftemängeln, Unterrichtsausfällen undunvorbereiteten, eigenverantwortlichen Arbeitsphasen. An den meisten Berliner Schulen fiel wochen-und monatelang der Unterricht aufgrund der beschriebenen technischen Probleme und der fehlendenOrganisation im zweiten Semester aus. Nur in wenigen Fällen bekamen Schüler*innen Unterstützungbei der eigenständigen Erarbeitung des Unterrichtsstoffs. Uns fehlte sowohl die Rückmeldung unserLehrer*innen als auch der aktive Austausch mit Mitschüler*innen.Auch das Aufholen des Unterrichtsstoffes im dritten Semester war kaum möglich. Viele Schulen setzten das Hybridsystem um, sodass die Schüler*innen unterschiedliche Lernstände undWissenslücken hatten. Besonders stark wurde der normale Unterricht durch die vielenQuarantäneanordnungen beeinträchtigt. Statt einheitlicher Schulschließungen mussten an denSchulen immer wieder Lerngruppen in Quarantäne. Im Kurssystem war es zudem nicht möglich, aufdas Fehlen bestimmter Schüler*innen angemessen Rücksicht zu nehmen. Ähnlich wie beimHybridunterricht entstanden so immer wieder große Diskrepanzen bei all denen Schüler*innen, diezum Schutze des Gemeinwohls in Quarantäne waren. Diese Nachteile sind keineswegs gerecht undentsprechen nicht dem Grundsatz der Chancengleichheit. In vier der zehneinhalb Wochen des vierten Semesters konnte kein Präsenzunterrichtgewährleistet werden. Nach Einschätzungen der Expert*innen werden aufgrund der unverlässlichenInzidenzzahlen und der neuartigen Virusmutation, die sowohl gefährlicher als auch schwerereinschätzbar ist, weitere Schwierigkeiten auf uns zukommen. Die vorraussichtliche Verlängerung derSchulschließungen (vgl. Tagesspiegel Artikel vom 19.01.2021, 16:34 Uhr​1​) wird die Abiturvorbereitungin den wenigen verbleibenden Wochen der Abiturient*innen dadurch erheblich erschweren. Folglich werden Schüler*innen sich noch länger mit den Schwierigkeiten des Homeschoolingsauseinandersetzen müssen.

Im Gegensatz zum Abiturjahrgang 2020, der nur wenige Tage Unterricht verpasste, sind die entstandenen Wissenslücken in drei der vier Kurssemester nicht mehr zuschließen. 1https://www.tagesspiegel.de/berlin/wie-geht-es-weiter-an-berlins-schulen-schulen-oeffnen-vielleicht-bis-mitte-februar-nicht/26832104.html Eine weitere Sorge der Abiturient*innen ist zudem das Gesundheitsrisiko, welches mit derDurchführung der Prüfungen einhergehen würde. Abgesehen davon, dass typische Lerngruppen,Nachhilfeangebote und regelmäßige Bibliotheksbesuche sowohl aus rechtlichen als auchgesundheitlichen Gründen kaum durchführbar sind, beunruhigen die sehr hohen Infektions- undTodeszahlen die Abiturient*innen. Schüler*innen, die selbst Teil einer Risikogruppe sind, kann nichtzugemutet werden, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Prüfungen zu fahren, bei denen sie, wenn auchmit Abstand, von weiteren Menschen umgeben sein werden. Die Hygienevorkehrungen beim Abitur 2020 zeigten selbst bei deutlich niedrigerenInfektionszahlen und entsprechend viel geringerem Infektionsrisiko, dass ein gesundheitlichesGefahrenpotential nicht vermeidbar ist. Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft kann durchregelmäßiges Lüften, Desinfektion, Masken und weitere Vorkehrungen das Infektionsrisiko zwarbedingt gesenkt, aber keineswegs ausgeschlossen werden. Mit diesem Risiko werden sowohl derLockdown als auch die Schulschließungen begründet. Sowohl die weitere Ausbreitung von Covid-19 als auch die eigene Ansteckungsgefahr belastetden Abschlussjahrgang. Wir können nicht verantworten, dass durch die notwendige Vorbereitung,Anfahrten zur Schule oder die Durchführung der Prüfungen etliche Menschen erkranken oder garsterben. Genauso ist es seitens der Entscheidungsträger*innen nicht verantwortbar, dass wir unserUmfeld und uns selbst dieser Gefahr aussetzen müssen. Noch nie waren die Abschlussprüfungen miteinem derartig hohen gesundheitlichen Risiko behaftet.Aus den genannten Gründen ist die aktuelle Situation keineswegs mit früheren Jahren vergleichbarund erfordert daher, dass die Abiturprüfungen in diesem Jahr durch das Durchschnittsabitur ersetztwerden. Der nötige Nachteilsausgleich würde somit der Krisensituation in der Pandemie gerechtwerden und damit die Chancengleichheit wahren.An der Aussetzung der schriftlichen Prüfungen für den Mittleren Schulabschluss erkennen wir, dassdie Entscheidungsträger*innen unsere Sorgen teilen. Dazu zählten unter anderem die technischenBeeinträchtigungen, die verminderte Unterrichtsqualität und der fehlende Unterrichtsstoff, diepsychische Belastung, die Verstärkung sozialer Ungerechtigkeit sowie die gesundheitlichen Risiken.Die konsequente Entscheidung, man mag sie als „Durchschnitts-MSA“ bezeichnen, begrüßen wir alseffektiven und fairen Ausgleich der vielen Nachteile, die die Abschlussjahrgänge 2021 ertragen habenund weiterhin erfahren.Bereits im letzten Jahr wurde das Durchschnitts-MSA durchgesetzt, da diese Schüler*innen imGegensatz zu dem Abiturjahrgang 2020 nicht wenige Tage, sondern mehrere Monate keinenPräsenzunterricht hatten. An der Wiederholung dieser Maßnahme für den MSA-Jahrgang 2021 zeigtsich nun deutlich, dass durch das Durchschnitts-MSA 2020 keine bedeutende Nachteile für dieSchülerschaft entstanden sind. Die Angst vor einer Entwertung durch das Durchschnittsabitur ist beieiner bundesweiten Durchführung daher ebenfalls gänzlich unbegründet.Wir als Schülerinitiative, Rat der Berliner Schulen, repräsentieren bereits die Mehrheit der jeweiligenAbiturjahrgänge von über 30 Schulen und fordern nun gemeinsam die schnellstmögliche Umsetzungeines Durchschnittsabiturs, bei dem Abiturprüfungen entweder, ähnlich dem MSA und derEntscheidung Großbritanniens, abgesagt werden oder nach dem Vorbild anderer Länder, darunterden USA, nicht verpflichtend bleiben, sondern freiwillig abgelegt werden können. Nur auf diese Weiseist es möglich, dem Anspruch auf Chancengleichheit trotz der unzähligen Nachteile unseresAbschlussjahrgangs durch die Pandemie gerecht zu werden.Wir hoffen und vertrauen darauf, dass die Entscheidungsträger*innen, die das Durchschnitts-MSA derSituation der Abschlussjahrgänge 2021 entsprechend eingeführt haben, auch die Sorgen derAbiturient*innen ernstnehmen und unsere Forderungen umsetzen werden.

Mit freundlichen Grüßen

Die Vertreter*innen der Abiturjahrgänge der Schulen

Ernst-Abbe-Gymnasium

Robert-Blum-Gymnasium

Albrecht-Dürer-Gymnasium

Albert-Schweitzer-Gymnasium

Otto-Hahn-Schule

Humboldt-Gymnasium

Eckener-Gymnasium

Schiller-Gymnasium

Friedrich-Ebert-Gymnasium

Max-Planck-Gymnasium

Fritz-Karsen-Schule

Hermann-Hesse-Gymnasium

Robert-Jungk-Oberschule

Albert-Einstein-Gymnasium

Sophie-Scholl-Schule

Katholische-Schule-St.Marien

Evangelische Schule Berlin

ZentrumSekundarschule-Wilmersdorf

Andreas-Gymnasium

Wald-Gymnasium

Heinrich-Böll-Oberschule

Lessing-Gymnasium

Theodor-Heuss-Gymnasium

Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli

Kurt-Tucholsky-Oberschule

Clay-Oberschule

Carlo-Schmid-Oberschule

Jane Addams-Schule

OSZ Banken, Immobilien und Versicherungen

OSZ Lotis

Evangelische Schule Neukölln

Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule

Max-Beckmann-Oberschule“

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