1. Trotz der Polyvalenz und der semantischen Uneindeutigkeit des Bildungsbegriffes ist zu vermeiden, dass „Bildung“ als Containerbegriff bzw. als „catch all term“ für alle möglichen Vorstellungen verwendet wird, die auf eine bildungstheoretische Begründung verzichten. Die Folge davon wäre, dass die fundamentale Bedeutung der Bildungstheorie zur Regulierung schulischer Prozesse weitgehend aberkannt wird, zumal zumindest ein solcher Anspruch besteht.

2. Das bedeutet, dass Bildung nicht auf ein eher funktional-berufsqualifizierendes bzw. instrumentelles Verständnis reduziert werden sollte, weil damit die Möglichkeit gegeben ist, dass das Verständnis von Bildung auf Verwertbarkeit und formale Bildungskontexte ausgelegt wird, sodass Bildung mit Ausbildung, Qualifikation und mit schulischen Abschlüssen bzw. als Instrument der Statuserhöhung und -sicherung verwechselt werden kann und so seine emanzipatorische Dimension unterschlagen wird.

3. Es ist zu verdeutlichen, dass ein anspruchsvoller und umfassender Begriff von Bildung (wie im Papier der LAG Bildungspolitik und im Landesparteiprogramm 2022 dargelegt) generell nicht in Kompetenzmodellen aufgehen kann und dass diese auch keine Alternative zum Verständnis von Bildung darstellen, weil der Bildungsbegriff einer Funktionalisierung, einer Ausrichtung an ökonomischen Effizienzkriterien, an technischer Rationalität, an ausschließlicher Tauglichkeit, an Planbarkeit, an einem kumulativen Aufbau und an Messbarkeit sich widersetzt, weil er an Selbstbestimmung, Selbstzweckhaftigkeit, Reflexion, an negative Erfahrung, an selbstständige Urteilsbildung, Kritik und Widerstandskraft gebunden ist. Die Eigenlogik von Bildungsprozessen und ihre Gebundenheit an Reflexivität und Selbstbestimmung soll mit dem Kompetenzbegriff in ein Prokrustesbett einer Standardisierungslogik gepresst werden. Deshalb sind das von der LAG Bildungspolitik vorgeschlagene Bildungsverständnis und eine Kompetenzausrichtung in sog. Kernlehrplänen unvereinbar. Die Begründung für die Unvereinbarkeit beider Verständnisse ergibt sich darüber hinaus noch dadurch, dass die Kompetenzausrichtung ein Verständnis der Herstellung von Bildung und von Lernergebnissen gleicher Qualität unterstellt, während es in Bildungsprozessen darauf ankommt, dass nicht alle gleich herauskommen, sondern dass jeder anders herauskommt, als er hineingegangen ist (vgl. Dörpinghaus, 2009, S. 29).

4. Es ist zu bedenken, dass Bildung zwar Möglichkeiten schaffen kann, in denen durch Analyse, Reflexion und Kritik eigene Denk- und Verhaltensweisen hinterfragt und Perspektiven für eine „ökologisch-sozialistische Transformation“ (Dörre, 2021, S. 14) und eine demokratisch-solidarische Zukunft entwickelt und diskutiert werden können, um so Wege zu eröffnen, eine solche Veränderung individuell und/oder kollektiv handelnd mitzugestalten. Aber andererseits ist es naiv, Bildung zu einer Problemlöserin für gesellschaftliche Herausforderungen und multiple Krisen zu instrumentalisieren und sie so zur Hoffnungsträgerin einer sozial-ökologischen, demokratischen und gesellschaftlichen Transformation zu adressieren, mit der diese Welt noch zu retten sei. Die Ansprüche von Bildung sind daher im Spannungsfeld gesellschaftlicher Widersprüchlichkeit, in den dadurch sich ergebenden Grenzen unter hegemonialen Strukturen und Bedingungen und Verstrickungen darin so zu reflektieren, dass sie nicht zu leeren und damit bedeutungslosen Begriffshülsen gerinnen oder gar der Eindruck entstünde, Bildung könne herstellbar sein.

5. Ein solches Bildungsverständnis öffnet sich für konkrete Utopien im Sinne von Ernst Bloch, die in der bestehenden Gesellschaft keine Existenz haben, deren Realisierung aber in ihr potentiell angelegt ist (vgl. Bloch, 1989, S. 265 ff.). Das Ideal der besseren Wirklichkeit, das danach fragt, „ob … (es, G. R.) den Menschen ein gutes Leben ermöglicht – in ökologischer, sozialer, politischer Hinsicht“ – (Zelik/Altvater, 2016, S. 12f.), ob es die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigen kann, ob es in der Lage ist, die Natur zu bewahren und ob es dazu taugt, dass die Menschen in einer herrschaftsfreien Welt leben können, in der sie auch ihr Arbeitsleben selbst bestimmen und gestalten können (vgl. ebd.), geht mit der Realität eine Verbindung ein, indem solche Reflexionen möglich gemacht werden. Utopien erzeugen mit kritischem Blick auf das Bestehende kreative Potenziale für Neuorientierung und ermöglichen, Formen für ein emanzipatorisches Bewusstsein hervorzubringen. Utopisches und kritisches Bewusstsein gehen eine Einheit ein. Unterrichtlich sind dazu bspw. Chancen zu eröffnen, das veränderte Bestehende zu antizipieren und in eine bessere Zukunft hineinzudenken. Neue und andere Denkmöglichkeiten sind deshalb zu entwickeln und möglichst auszuprobieren. Keinesfalls sind sie als „halluzinatorische Wunschvorstellungen“ (Bernhard, 2018, S. 263) zu diskreditieren, der Lächerlichkeit preiszugeben oder ins Reich der pädagogischen Illusion oder der Postulatspädagogik zu verbannen, zumal Utopien auch „eine Antwort auf Lebensbedingungen zu geben (versuchen, G. R.), die für die Mehrheit der Menschen unerträglich sind“ (Borst, 2017, S. 215).

Ein ausschließliches Rekurrieren auf alltagsweltlichen Erfahrungen ohne kontrafaktische Entwürfe verbliebe im scheinbar alternativlosen Bestehenden.

 

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