Jürgen Helmchen: Was ist Bildung?
Bildung als Prozess ist die Bereitstellung und der Erwerb der Mittel zum Gebrauch des Verstandes in Bezug auf die Gesellschaft und sich selbst. Für Bereitstellung und Erwerb und ihre Formen gibt es keine Begrenzung. Sie richten sich nach den Grundsätzen der Menschlichkeit und lassen diese im Rahmen der Geschichte der Menschheit erfahren. Sie ist Herausbildung und Förderung der Urteilskraft.
Bildung als Zustand ist Teilhabe an der gesellschaftlichen Vernunft und an ihren Ausdrucksformen in Politik, Kultur, Arbeit und Naturverwendung und den Umständen des eigenen Lebens. Im Gebrauch des Verstandes geschieht ihre tätige Weiterentwicklung im Verein mit anderen.
Prozess und Zustand nicht voneinander zu trennen ist grundlegendes Element der Bildung.
Ich weiß nicht, wo diese Diskussion über „Bildung“ bei Euch zu finden ist; aber auf Deinen Text, Karl-Heinz, wollte ich reagieren – auch wenn das zur Zielerreichung der Diskussion in den Augen vieler womöglich nicht viel beiträgt.
Erst wenn eine Verständigung über diese Art von Allgemeinheit erfolgt ist, lassen sich nähere Bestimmungen machen: das Verhältnis von „instrumenteller“ zu „nicht“ instrumenteller Bildung (was ja von Zeit zu Zeit wechselt), von Spezialisierung und allgemeiner Bildung (was ohnehin kein Gegensatz ist), von Bildung im Hinblick auf Zuschreibung besonderer Aufgaben und soziale Besonderheiten (so diese allgemein bestimmbar sind) etc.
Ich weiß nicht, ob es uns in der Debatte darüber, wie wir zur Behebung der gesellschaftlichen Schäden gelangen, die sich allerorten zeigen und die uns jetzt massiv durch die Omnipräsenz der Gesellschaftsfeinde (Corona-Maßnahmen-Gegner) bzw. ihrer Profiteure mittlerweile unübersehbar vor Augen geführt werden, hilft, wenn Gesellschaft jetzt „Anthropozän“ heißen soll. Das rückt Gesellschaft eher aus dem Blick und v.a. naturalisiert es das Historische der Gesellschaft. Sagt man „Anthropozän“, dann könnte das Missverständnis aufkommen, wir lebten halt in einer der Epochen der Gaia. Von uns bleibt ohnehin nicht viel übrig – in Millionen von Jahren. Vor Greffrath habe ich großen Respekt; aber wenn sich Philosophen (auch Alex, auch Adorno) als Bildungstheoretiker verkleiden, geht meistens etwas schief. Bildungstheorie braucht eigenes Personal, bzw. müssen sich die, die zur Bildungstheorie etwas beitragen wollen, sich intensiv mit der vielschichtigen Dialektik der Bildung beschäftigt haben. Greffrath kann gut Marx, Alex auch … Das Entsetzen über die Verfassung der mit Gesellschaft befassten Wissenschaften kann man verstehen. Man wird noch um einige Grade entsetzter sein müssen, wenn man den Zustand der mit Bildung befassten Wissenschaften anschaut.
Weil in diesen Wissenschaften, in ihrem Hineinwirken in die Gestaltungsformen von Gesellschaft über Qualifikation von Menschen und weil in den Vollzugsbereichen der Gesellschaft (was gemeinhin „Praxis“ genannt wird) allgemeine Vorstellungen von Bildung nicht mehr vorhanden sind, auch Institutionen sie nicht mehr verkörpern, weil entweder in diskriminierender Weise (im doppelten Sinn) über Bildung gesprochen oder sie schlichtweg als überholt bezeichnet wird, benötigen wir eine neue Praxis der Bildungstheorie. Man muss schon bereit sein, etwas weiter in die Geschichte der Gesellschaften zurückzugehen, um sich Bildungstheorie – für eine Praxis – wieder anzueignen.