Ein Bericht aus der Katharina Henoth-Gesamtschule in Köln Vingst/Höhenberg
Das Startchancenprogramm der Bundesregierung und der Länder soll Unterrichts- und Schulentwicklungsprozesse so verbessern, dass Benachteiligungen durch die sozioökonomischen Bedingungen von SchülerInnen aus dem Prekariat minimiert werden.
Morgens um halbsieben schmiert Martin Süsterhenn Brote – Käse, Wurst, vegan, für die Schülerinnen und Schüler der Katarina-Henoth-Gesamtschule in Höhenberg. Er ist dort Schulleiter. Über die Hälfte seiner Schülerinnen und Schüler kommt aus Familien, die entweder Bürgergeld beziehen oder Anspruch darauf hätten. Mit Hilfe von Spenden sorgt er dafür, dass die Kinder wenigstens eine grundlegende Voraussetzung für gelingendes Lernen bekommen, nämlich ein Frühstück. Nun kann er sich eigentlich freuen: Seine Schule ist die einzige der 15 Kölner Gesamtschulen, die in den Genuss des Startchancenprogramms kommen soll. Mit diesem Programm sollen insgesamt 4000 der über 30 000 deutschen Schulen gefördert werden. Es geht um Schulen, deren Schülerschaft besonders schlechte Startchancen hat. Also Kinder aus Zuwandererfamilien, bei denen Zuhause nicht die Unterrichtssprache Deutsch gesprochen wird, deren Familien Bürgergeld oder andere Sozialleistungen beziehen oder die besonderen Förderbedarf attestiert bekommen haben.
Sozialindex 9
Schulen, auf derer Schülerschaft das zutrifft, haben den Sozialindex 9. In Köln sollen 20 Schulen an dem Startchancenprogramm teilnehmen. Das sind vorwiegend Grundschulen. Davon liegen 17 im Rechtsrheinischen, die drei linksrheinischen sind sämtlich in Chorweiler.
Das Bundesbildungsministerium hat das Programm initiiert, der Bund zahlt über zehn Jahre jährlich eine Milliarde, die Länder müssen den gleichen Betrag dazu tun. Auch die Schulträger, also bei uns die Stadt Köln, müssen ihre Kassen öffnen. Ein Teil des Programms soll nämlich in den Ausbau und die Ausstattung der Schulen gehen, daran sollen sich die Kommunen beteiligen.
Wieviel Geld letztlich an seiner Gesamtschule in Kalk-Höhenberg landet, weiß Martin Süsterhenn noch nicht. Und erst recht nicht, was er dann damit machen kann. Das Programm hat drei Körbe: Im ersten geht es um Investitionen in die Lernumgebung. Es gibt auch an seiner Schule genug Ausbaubedarf. Etwa die marode Aula so instand zu setzen, dass sie wieder genutzt werden kann. Das versprach die Stadt schon 2017, als Teil des Landesprogramms „Gute Schule 2020“. Seine Erfahrung: Die Gebäudewirtschaft hat das nicht auf die Reihe bekommen, da hat die Stadt von den Fördergeldern einfach neue Tablets gekauft.
Aber auch die marode Aula wäre ihm nicht so wichtig wie mehr Menschen. Kleine Klassen wird es angesichts der fehlenden Schulplätze erst mal nicht geben, dann wenigstens mehr Lehrkräfte, also mehr Lehrer in einer Klasse. Auch multiprofessionelle Teams, also Sozialpädagogen und Sonderpädagogen, Handwerker, Theaterpädagogen. Die ganz normal in den Klassen mitarbeiten. Bisher sind sie nur „zuständig“ für die Kinder mit ausgewiesenem Förderbedarf. Wird sich das mit dem Startchancenprogramm ändern? Er hofft es. Dafür ist der zweite Topf des Programms vorgesehen. Versprochen ist auch, dass die Lehrkräfte in ihrer Arbeitszeit in Teams zusammenarbeiten und auch Zeit für individuelle Förderung bekommen sollen. Das Programm soll im nächsten Schuljahr anlaufen. Aber bisher ist nichts geklärt, er kann also keine neuen Lehrkräfte anwerben oder gar einstellen.
Lieber erst mal raus aus dem Klassenzimmer
Die Kinder sollen erst mal die grundlegenden Fähigkeiten richtig lernen, also: lesen, schreiben, rechnen. Immer mehr Kinder bekommen den Förderbedarf Lernen bescheinigt. Falsch, meint Martin Süsterhenn. Ihnen fehlt einfach die Sprache. Das ist die Grundlage für alles andere, etwa, zu Erlernen von demokratischem Miteinander. Versprochen ist, dass die Schulen dazu mehr Freiraum bekommen. Darauf hofft der Gesamtschulleiter. In den Eingangsklassen, also fünftes und sechstes Schuljahr, würde er am liebsten die Lehrpläne und Stundentafeln beiseitelegen. Sie haben einen Garten um die Schule, Bienenstöcke, Werkstätten – er würde mit den Kindern raus aus dem Klassenräumen gehen, Honig machen, Kunst, Musik, Bewegung. Beim gemeinsamen Arbeiten und Erleben lernen sie, sich mündlich und schriftlich auszudrücken, zu planen, zu sortieren und zu organisieren. Sie bekommen Neugier, Spaß am Lernen, dann können sie ab dem siebten Schuljahr auch den Curricula folgen. Und Lesen lernen. Dazu reichen nicht 20 Minuten in der Woche. Begeistert berichtet er von einer Hauptschule im Aachener Raum, wo der Schulleiter jeden Tag eine halbe Stunde den Kids ein Buch vorliest, die Kinder folgen im Text mit dem Finger.
Aber statt mehr Freiheiten sieht Martin Süsterhenn mehr Bürokratie auf sich zukommen: Anträge schreiben, Programme entwerfen, für die sich dann ohnehin niemand mehr interessiert, Vernetzungstreffen, Besprechungen mit der Schulaufsicht, dem Schulamt. Die wissenschaftliche Begleitung, deren Erkenntnisse ohnehin in Büchern und Schubladen verschwinden und in der Praxis nichts ändern werden. Er kann die Schuleiterinnen verstehen, die sich bei solchen Programmen lieber nicht melden. Auch dieses Mal wurden sie nicht vorher befragt, was sie brauchen, was sie verändern wollen, das wird ihnen von oben gesagt. Süsterhenn hat schon einige Sonderprogramme erlebt, die dann irgendwann auslaufen. Und dann geht es in der Schule so weiter wie seit Generationen. Aber, um noch mal konkret zu werden, eine neue Gesamtschule in der Nachbarschaft, in Neubrück, für deren Gründung er sich einsetzt, die würde etwas bringen, um die Chancen der Kinder in diesem Stadtteil nachhaltig zu verbessern. Oder ein kostenloses Mittagessen für alle Kinder, wie es in Finnland üblich ist, kostenloser Förderunterricht für alle Kinder, die es brauchen, von Lehrkräften, die dafür auch Stunden angerechnet bekommen. Noch hofft er, dass wenigstens einiges davon verwirklicht werden kann. Wenn auch nicht überall, wie es wünschenswert wäre, aber wenigstens an seiner Schule.