Tim Engartner:

„Raus aus der Bildungsfalle! Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden“

Buchvorstellung vom 9. Oktober 2024, hier das Video

 

Zu Beginn der Veranstaltung lobt Karl-Heinz Heinemann die zugängliche Sprache des Buchs. Engartner gelinge es, Sprache nicht als Exklusionsmittel zu nutzen und die Zusammenhänge deutlich zu machen, ohne trival zu werden. Während man sich in Bezug auf die grundlegenden Forderungen einig ist – mehr Bildungsgerechtigkeit, mehr Bildungsfinanzierung – gebe es aber auch einige linke Gewissheiten, die in Engartners Buch gegen den Strich gebürstet werden.

Das erste kontroverse Thema ist Engartners Forderung, endlich Schluss zu machen mit Schulformdebatten. Engartner argumentiert, dass die derzeitigen Schulstrukturen – mit insgesamt 16 verschiedenen Schulformen – nicht nur überholt, sondern auch hinderlich für die Bildungsgerechtigkeit sind. Statt in jedem Bundesland durch die Kultusministerien eine andere Agenda zu setzen, sollte man lieber mit Gemeinsamkeiten beginnen, wie z.B. der chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems. Engartner plädiert für ein einheitliches Schulsystem, wie es beispielsweise in Schweden existiert. Ein Problem in Deutschland sei die Parallelexistenz von Gesamtschulen und anderen Schulen. Leider scheint keine Partei sich in diesen Kampf begeben zu wollen, und auch viele Politiker:innen, die sich öffentlich für Gesamtschulen aussprechen, schicken ihre eigenen Kinder dann doch lieber auf’s Gymnasium.

Eine weitere unbequeme Wahrheit, die Engartner präsentiert, lautet: Die Heterogenität einer Lerngruppe ist für Lehrkräfte der Hauptbelastungsfaktor. Wenn die Schulen dann so schlecht ausgestattet sind wie sie ausgestattet sind, ist ein professionell gestalteter Unterricht kaum möglich. Als anekdotisches Beispiel führt Engartner die Erfahrung seiner Frau an, die als Lehrerin in einer internationalen Klasse arbeitet. Hier sollen 24 Kinder aus 16 Herkunftsländern unterrichtet werden, keins von ihnen hat Deutsch als Erstsprache erworben – wie soll da ein Unterricht funktionieren, alleine vor einer Klasse, ohne Dolmetscher:innen? Die Schulen können sich kaum auf solche Anforderungen einstellen, da es keine finanziellen Mittel gibt. Es gibt auch kein strukturiertes Programm, keine Landesregierung, die sich dessen annimmt. Im EU-Vergleich sei Deutschland mit Blick auf die Bildungsausgaben und gemessen am BIP näher an Rumänien als an Schweden, dem Spitzenreiter in Bezug auf Bildungsausgaben. Gerade in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland müsse doch eigentlich klar sein, dass besonders stark in Bildung investiert werden muss.

Ein weiterer Bereich, der am Abend diskutiert wurde, ist die „Kita-Katastrophe“, wie es Engartner formuliert. Viele Eltern kenne die Situation, ob nun aus der Kita oder aus der Schule: Kinder werden nachhause geschickt, es fallen Stunden aus und zur Krönung wird der Preis für das meist mittelmäßige Mittagessen erhöht. In Köln laufen ein Drittel aller Kitas in privater Trägerschaft, die häufig auf Elterninitiativen zurückgehen, mit viel Bürokratie zu kämpfen haben und oft sehr teuer sind. Ein weiteres Drittel der Kölner Kitas ist in konfessioneller Trägerschaft. Es wird deutlich, dass städtische Angebote fehlen.

Doch wie könnte eine alternative Finanzierung der Bildungslandschaft aussehen? In Finnland werden Schulen beispielsweise über die Kommunen finanziert, die eigenständig entscheiden, wie das Geld investiert wird. Dies ist insofern sinnvoll, als auch Kommunen ein Interesse daran haben, ihren Standort auszubauen. In NRW würde dies allerdings an der chronischen Unterfinanzierung der Kommunen scheitern. Derweil gibt es vom Bund mehr Geld für die Bundeswehr statt mehr Geld für Bildung. Allerdings muss hier auch zwischen den Bundesländern differenziert werfen: die Bildungsausgaben pro Kopf sind in Bayern doppelt so hoch wie in NRW. Dass auch innerhalb NRWs Prioritäten unterschiedlich gesetzt werden, zeigt das Beispiel der Kitas: Während die Gebühren in Köln teilweise die 1000€-Grenze übersteigen (monatlich!), organisiert die Nachbarstadt Düsseldorf den Kitabesuch weitgehend gebührenfrei.

Doch die Finanzierung ist nur ein formaler Aspekt – wie steht es mit den Inhalten im Bildungsbereich? Engartner plädiert dafür, weiter ein Humboldtsches Bildungsideal hochzuhalten. Während in Schulen inzwischen der Kompetenzerwerb dominiert, betont Engartner, dass auch Inhalte wichtig sind. Auch Spracherwerb ist ein zentraler Teil von Bildung:  Kritikfähigkeit, das Wecken von Neugierde und Befriedigen von Neugierde, die Teilhabe an der Demokratie – vieles davon beruht auf Sprache. Aber was, fragt Karl-Heinz Heinemann kritisch nach, sind denn die Inhalte, die wichtig sind? Kann es wirklich ein „zurück“ zu einem festen Bildungskanon geben – Hauptsache, Goethe wird weiter gelesen? So einfach ist es nicht. Für Karl-Heinz Heinemann bietet Klafkis Ansatz von Bildung anhand von Schlüsselproblemen eine produktive Möglichkeit, an der Relevanz von Inhalten festzuhalten, ohne sie losgelöst von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu betrachten. Entscheidend ist, da sind sich beide auf dem Podium einig, sich dem Verwertungsimperativ von Bildungsinhalten entgegenzustellen. Als Professor beobachtet Engartner diese Entwicklung auch in seinen Uni-Seminaren: Der Creditpointerwerb steht für Studierende im Vordergrund. In der ersten Sitzung geht es um Formalitäten und Fristen, wenn es gut läuft, kommt man dann ab Sitzung zwei zu den Inhalten. Diese Logik der Verwertbarkeit spiegelt sich auch in der Hinwendung zu mehr Berufsorientierung wider, die von allen Fraktionen gefordert wird.

Angesichts von KI-gesteuerten Angeboten könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, dass der berühmte Ausspruch Francis Bacons „Wissen ist Macht“ so nicht mehr gilt. Doch Engartner widerspricht hier entschieden: Es klingt zwar konservativ, aber es mache das Leben reicher und interessanter, nicht immer nur zu gucken: Brauche ich das denn in der Schule? Das kann nicht der einige Maßstab für Bildung sein. Natürlich kann man sich Habermas auch über Youtube erschließen. Sich Wissen durch Lektüre zuzuführen gibt es auch an der Uni kaum noch. Auch wenn Engartner zugibt, dass es Situationen gibt, in denen der „einfache“ Weg auch genügen mag, beharrt er darauf, dass Lernen auch mit Anstrengung verbunden sein kann. Natürlich müsse Lernen auch Freude machen. Es gehe aber auch darum, sich durchzubeißen und zu erfahren, dass sich die Mühe lohnt. Da geht es auch um Selbstwirksamkeitserfahrungen: Sich durch einen Text zu arbeiten erfordert zwar Anstrengung, wird aber auch neben dem Erkenntnisgewinn auch mit dem Stolz belohnt, es geschafft zu haben. Bildung ist mehr als nur passives Rezipieren, es geht auch um die eigene Entwicklung von Fähigkeiten während des Bildungsprozesses.

Die Forderung nach immer neuen Schulfächern geht Engartner zufolge am Problem vorbei. Statt immer wieder mit dem Feuerlöscher kurzfristig Probleme zu lösen, bräuchte es eine Langzeitperspektive in der Politik. Investitionen in Bildung kosten , ähnlich wie im Verkehr, Zeit. Politiker:innen würden jedoch häufig Projekte bevorzugen, die schnelle Erfolge produzieren.

Es ist daher auch zu bezweifeln, dass es bald eine andere Form der Leistungsbewertung an Schulen geben wird. Ein Punkt, in dem sich Engartner von vielen linken Kritiker:innen des Bildungssystems unterscheidet, ist seine kürzlich in der ZEIT vorgetragene These, es gebe eine Inflation guter Noten, weshalb Spitzenleistungen ihre Aussagekraft verloren haben. Solange das Leistungsprinzip gelte, sei eine inflationäre Vergabe von Bestnoten unfair denen gegenüber, die tatsächlich Höchstleistungen erbringen. Während 80% der Zuschriften nach diesem Artikel positiv gewesen seien, habe es jedoch auch flammende Gegenreden gegeben: Der Notendruck treibe Kinder gar in den Suizid. Karl-Heinz Heinemann hakt nach: Ist das nicht ein valider Punkt? Schließlich sei seit den 70er-Jahren wissenschaftlich belegt, dass die Aussagekraft von Noten sehr gering und ihre Vergleichbarkeit nicht gegeben sei. Solange das Notensystem jedoch existiert, so Engartner, profitieren von einer Harmonisierung des Notenspektrums gerade diejenigen, die sich bei einer Bewerbung auf Studien- oder Arbeitsplätze sendungsbewusst behaupten können. Gerade in einem Land wie Deutschland, in dem die soziale Herkunft massiven Einfluss auf den späteren Bildungsweg und -erfolg hat, würde so die Bildungsungleichheit noch weiter verschärft. Radikal wäre zu fordern: Schafft die Noten komplett ab.

Ein weiterer Punkt Engartners, den wohl viele linke Pädagog:innen als konservativ einordnen würden, ist die Kritik an offenen Unterrichtsformaten. In diesen könnten sich vor allem diejenigen Kinder sicher bewegen und positive Lernerfahrungen machen, die aus sozio-ökonomisch bessergestellten Familien kommen und selbstständiges Arbeiten gewohnt sind, da sie dieses Verhalten zuhause ständig trainieren – während die Eltern beim Frühstück über die Nachrichten diskutieren, beim Museumsbesuch oder in der Stadtbibliothek. Für Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien sind offene Unterrichtsformate dagegen deutlich herausfordernder. Die Verantwortung für den Bildungserfolg von der Lehrkraft an die Schüler:innen auszulagern, sei daher ein ambivalenter Vorgang. Engartner zitiert hier Hannah Arendt: „Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich daß die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben.“

Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass diejenigen, die diese Verantwortung tragen – nämlich die Lehrkräfte – immer stärker unter Druck geraten. Die Ausfälle aufgrund von psychischer Belastung sind immens: Es gebe keinen Berufsstand mit so hohem Krankenstand, ¾ der Lehrkräfte geht vorzeitig in den Ruhestand, 44% arbeiten in Teilzeit. Währenddessen bestimmt seit Jahren eine Mangelwirtschaft die Situation an Schulen und schränkt die Möglichkeiten der Lehrkräfte ein. Es gibt viel Unterrichtsausfall und einen Lehrkräftemangel, der durch die fehlende Attraktivität des Berufs nicht abnimmt. Wie verheerend die Auswirkungen von Unterrichtsausfall gerade für Kinder aus Familien sein können, in denen beide Eltern arbeiten und trotzdem kaum finanziell über die Runden kommen, zeigt das Beispiel Köln-Chorweiler. In Familien, in denen genug  Zeit oder Geld für die Organisation alternativer Betreuung aufgewendet werden können, führt Schulausfall vielleicht zu Stress, wirkt sich aber nicht bedeutend auf den Bildungserfolg aus. Auch seine eigenen Kinder, da ist sich Engartner sicher, werden schon irgendwie das Studium erreichen. In Chorweiler dagegen korreliert die Schulausfallquote mit einer steigenden Ladendiebstahlquote – das Einkaufszentrum ist für viele Jugendliche der einzige Ort, an dem sie sich aufhalten können.

Am Beispiel der Green Gesamtschule Duisburg, die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde, fordert Karl-Heinz Heinemann zum Abschluss der Diskussion eine völlig neue Schulkultur: Bezahlte Teamarbeit als Normallfall, vernünftig ausgestattete Arbeitsplätze an der Schule, eine Neuberechnung der Lehrer:innenarbeitszeit. Es könne nicht sein, dass wichtige Fragen der Schulentwicklung während der Unterrichtszeit, an pädagogischen Tagen und auf Betriebsauflügen besprochen werden müssten, betont auch Engartner. Lehrkräfte müssten in 45 Minuten Unterrichtszeit so viele Entscheidungen treffen, wie ein Pilot im Landeanflug. Entsprechend brauchen sie auch Unterstützung – nicht nur in Form von Sonntagsreden nach der Veröffentlichung der aktuellsten PISA-Ergebnisse, sondern in Form von vernünftiger Finanzierung, ausreichend Personal und in sauberen Gebäuden, in denen man sich wohlfühlen kann und die man gerne besucht. Nur durch bessere Bedingungen in öffentlichen Schulen könne man dem Boom der Privatschulen etwas entgegensetzen.

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