„Man lernt wenigstens Coolness und Stolz“

Die „gesellschaftliche Produktion von Verachtung“ ist die mehr oder minder heimliche Agenda der Schule – das ist die These von Stefan Wellgraf, Soziologe an der Humboldt-Universität. Nicht nur in seinem Buch „Ausgrenzungsapparate Schule“ hat er sich damit auseinandergesetzt – hier untersucht er vor allem den institutionellen Rahmen und beleuchtet ihn in Interviews mit Schülerinnen, sondern auch in den beiden vorher erschienenen Büchern „Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung.  Und „Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten“ setzt er sich mit diesem Thema auseinander.

Anhand von Untersuchungen und Interviews in Berliner Schulen mit „abgehängter“ sozioökonomischer Nachbarschaft, legte Stefan Wellgraf mit seinem Vortrag zu seinem Buch „Ausgrenzungsapparat Schule“ noch einmal den Finger in die Wunde des deutschen Bildungssystems, nämlich dass dessen soziale Selektivität dazu führt, dass ganze Schichten der Bevölkerung durch Ausgrenzung im Bildungsbereich um Lebenschancen beraubt werden. Diese Tatsache  ist eng mit der historischen Funktion von Bildungsinstitutionen als Mittel zur Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen verknüpft. Soziale und kulturelle Kapitalvorteile begünstigen privilegierte Schüler*innen, da Leistungskriterien an die Werte dominanter Schichten angepasst sind. Dies führt zur Verinnerlichung sozialer Ungleichheiten.

Das deutsche Schulsystem orientiert sich an einem unrealistischen Ideal einer homogenen, herkunftsdeutschen und bildungsbürgerlichen Schule. Sprache dient als zentrales Ausgrenzungsmittel, wobei der „monolinguale Habitus“ postmigrantische Gruppen benachteiligt. Gleichzeitig bietet das Schulsystem außerhalb des Gymnasiums kaum attraktive Perspektiven. Es weist Schüler*innen Rollen zu, die der Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen dienen und verschleiert dabei seine Selektionsfunktion.

Bildungserfolg hängt von der sozialen   Herkunft ab, wobei Kinder aus benachteiligten Schichten und migrantischen Familien strukturell benachteiligt sind. Dies zeigt sich insbesondere in Übergangsentscheidungen zwischen Schulformen und der Überrepräsentation auf niederen Schulzweigen. Der Bildungssektor verschärft soziale Ungleichheit, etwa durch die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung, und trägt so zur gesellschaftlichen Spaltung bei.

Die Annahme, Bildungserfolg basiere allein auf individueller Leistung, verdeckt institutionelle Diskriminierung. Übergangsentscheidungen beruhen häufig auf sozialen Stereotypen. Gleichzeitig wird Verantwortung zunehmend auf die Betroffenen abgewälzt, und soziale Ungleichheit erscheint als persönliches Versagen. HauptschülerInnen sind das Objekt gesellschaftlicher Verachtung. Sie empfinden sich dann selbst als die Dummen, weil sie die Leistungsideologie des Schulsystems verinnerlicht haben. Diese Stigmatisierung dient der Festigung kapitalistischer und patriarchaler Machtstrukturen. Auch die Notengebung, so seine These, dient vor allem der Festigung einer Leistungsideologie, mit der die gesellschaftliche Ungleichheit und Diskriminierung der „Minderbemittelten“ gerechtfertigt wird.

Das Bildungssystem kann als „Stigma-Maschine“ verstanden werden, die Chancen ungleich verteilt und Niedrigqualifizierte benachteiligt. Der Fokus auf die deutsche Sprache diskriminiert systematisch und prägt bis heute. Insbesondere eine nicht-deutsche Herkunft wird weiterhin problematisiert, eine Praxis, die auf nationalistischen Bildungstraditionen des 19. Jahrhunderts basiert. Auf diese Ausgrenzung reagieren manche Jugendliche, wie man auch aktuell anhand der Israel-Palästina-Diskurse sieht, mit einer Zuwendung zu anderen Nationalismen oder dem Islam und erfahren hier das Zugehörigkeitsgefühl, welches das deutsche Schulsystem ihnen verwehrt.

Gutwillige Lehrkräfte versuchen SchülerInnen und Eltern einzubeziehen – mit einem Stuhlkreis wird Offenheit und Multikulturalität nur vorgetäuscht wird, nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie den vorgegeben institutionellen Rahmen nicht sprengen, in dem Verachtung und Ausgrenzung vorgegeben sind. SchülerInnen reagierten mit „Coolness“, Langeweile aber auch mit Wut und Aggressivität. So können sie ihren eigenen Stolz entwickeln.

Lehrer*innen werden in diesem Kontext  in einen moralischen Konflikt getrieben, da sie trotz pädagogischer Ideale unweigerlich zur Reproduktion von Ungleichheiten beitragen. Die Verachtung des Lehrerinnenberufs spiegelt gesellschaftliche Widersprüche wider und dient dazu, Verantwortung für strukturelle Probleme weiterzureichen. Trotz guten Willens zementieren Lehrkräfte oft die bestehenden Hierarchien und Machtverhältnisse.

In der Diskussion wurden die Befunde, die Wellgraf vortrug, aus der Praxis bestätigt. Aber dieses Schulsystem der Ausgrenzung und Abwertung sowie die Reaktionen darauf mit coolness und vermeintlicher Gleichgültigkeit sei doch die richtige Vorbereitung für „Scheiß-Jobs“ und inferiore soziale Positionen, meinten DiskussionsteilnehmerInnen.

Der Vortrag regte dazu an, sich mit der Fundamentalkritik und mit den Büchern Wellgrafs weiter zu beschäftigen.

 

Von Karl-Heinz Heinemann

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