Am 28. April 2025 fand unsere Online-Diskussion mit der Autorin und ehemaligen Lehrerin Lisa Graf statt. Im Zentrum stand die Autorin und Lehrerin Lisa Graf, die unter der Moderation von Karl-Heinz Heinemann und Martina Zilla Seifert über ihren beruflichen Werdegang und ihre Beobachtungen im deutschen Schulsystem sprach. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und kann auf unserem YouTube-Kanal angeschaut werden.

Graf berichtete zunächst über ihren eigenen Bildungsweg, der von Brüchen, Umwegen und schließlich dem sozialen Aufstieg in den Beruf als Lehrerin geprägt ist. Sie stammt nicht aus einem bildungsfernen Milieu, hatte jedoch keine klassischen Bildungsressourcen wie Akademikereltern zur Verfügung. Durch den frühen Tod ihres Vaters musste die Familie mit noch geringeren ökonomischen Ressourcen auskommen als ohnehin schon. Obwohl sie kein Gymnasium besuchte, schaffte Lisa Graf den Weg ins Lehramt, arbeitete zunächst am Gymnasium und entschied sich später bewusst für den Wechsel an eine sogenannte Brennpunktschule. Diese Erfahrungen hat sie in ihrem Buch „Abgehängt – Wie Schule Lebenschancen verbaut“ verarbeitet, in dem sie die strukturellen Herausforderungen für Kinder aus benachteiligten Familien sowie die Rolle von Lehrkräften in diesem Kontext schildert. Das Buch wurde zum SPIEGEL-Bestseller und Lisa Graf zu einer gefragten Gesprächspartnerin zum System Schule.
Ein zentrales Thema der Diskussion war die ungleiche Verteilung von Bildungschancen in Deutschland. Graf und mehrere Teilnehmer:innen betonten, wie stark der Bildungserfolg von Kindern noch immer an die soziale Herkunft gekoppelt ist. Kinder aus Haushalten mit finanziellen, sprachlichen oder kulturellen Nachteilen starten oft mit geringeren Voraussetzungen und haben weniger Möglichkeiten, schulische Defizite zu kompensieren. Gleichzeitig fehlt es an gezielten Förderangeboten, um diesen Startnachteil systematisch auszugleichen. Oft hängt es vom Zufall und dem individuellen Engagement einzelner Lehrer:innen ab, ob zumindest versucht wird, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Schülerinnen aufzufangen. Stattdessen trifft man innerhalb von Schulkollegien häufig auf eine starke Verachtung von allem, was nicht in das konformistische Bild des deutschen Musterschülers am Gymnasium zu passen scheint.
Ein weiteres Problem, das im Gespräch aufgegriffen wurde, betrifft die strukturellen Bedingungen an Schulen mit hohem Unterstützungsbedarf. Lisa Graf beschrieb eindrucksvoll, wie der Alltag an einer Brennpunktschule aussieht: überfüllte Klassen, fehlendes Fachpersonal und ein hoher Anteil an Schüler:innen mit Sprachförderbedarf oder psychischer Belastung. Lehrkräfte übernehmen dabei zahlreiche zusätzliche Rollen – sie sind vermitteln nicht nur Wissen, sondern sind auch Sozialarbeiter:innen, Dolmetscher:innen, Mediator:innen und manchmal auch Vertrauenspersonen in schwierigen Lebenssituationen. Viele Teilnehmende bestätigten diese Rollenüberforderung aus ihrer eigenen Praxis.
In diesem Zusammenhang wurde auch über den akuten Personalmangel gesprochen. Besonders an Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen sei die Personalfluktuation hoch, da viele junge Lehrer:innen nach kurzer Zeit an vermeintlich „einfachere“ Schulen wechseln. Dies führe zu einer chronischen Unterversorgung und instabilen Lernbeziehungen. Der Ruf nach multiprofessionellen Teams – also der Einbindung von Sozialpädagog:innen, Schulpsycholog:innen und Sprachmittler:innen – wurde mehrfach laut. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich das Bild der Lehrkraft in der Gesellschaft verändern und an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen anpassen muss. Dazu gehört neben einem politisierten Verständnis des eigenen Berufs auch die Veränderung von Rahmenbedingungen, die Etablierung von Teamstrukturen an der Schule sowie eine andere Bemessung der Arbeitszeit, die den vielfältigen Aufgaben Raum gibt, statt nur die Unterrichtsstunden zu messen.
Auch die gesellschaftliche Wahrnehmung unterschiedlicher Schulformen kam zur Sprache. Die Teilnehmenden diskutierten kritisch, wie das Gymnasium weiterhin als „Normalfall“ der Schulbildung gilt, während Haupt- und Realschulen ein negatives Image tragen. Diese Abwertung beeinflusst nicht nur das Selbstbild der dort unterrichteten Schüler:innen, sondern erschwert auch die Arbeit der Lehrkräfte und senkt die gesellschaftliche Anerkennung dieser Schulformen. Lisa Graf hob hervor, wie schwer es sei, gegen diese Stigmatisierung zu arbeiten – sowohl innerhalb des Kollegiums als auch gegenüber Eltern und Öffentlichkeit. Über die Abwertungsmechanismen und die Verachtung, mit der auf Schüler:innen auf weniger angesehenen Schulen konfrontiert sind, haben wir bereits mit Stefan Wellgraf diskutiert, der eine ethnografische Studie an einer Berliner Hauptschule durchgeführt und die Internalisierung der Fremdzuschreibungen beschrieben und analysiert hat.
Ein weiteres Thema war die unzureichende Vorbereitung von Lehrkräften auf den Umgang mit Diversität und Lebensrealitäten, die nicht der eigenen Kindheit und Jugend entsprechen. Bis heute stammen die meisten Lehramtsstudierenden selbst aus der sogenannten Mittelschicht und haben kaum Kontakt zu Menschen aus anderen Milieus. Viele Teilnehmende der Diskussion kritisierten, dass in der Lehramtsausbildung kaum Inhalte zur interkulturellen Pädagogik, zu Traumapädagogik oder zum Umgang mit Armut vermittelt würden. Wenn biographische Reflexion überhaupt Teil des Lehramtsstudiums ist, dann werde diese selten mit politischen oder soziologischen Fragestellungen verbunden. So fällt es vielen Lehramtsstudierenden schwer, über die eigene Lebensrealität hinaus eine Offenheit und Sensibilität für die Probleme derjenigen zu entwickeln, die nicht so aufgewachsen sind, wie sie selbst. Die Folge sei eine erhebliche Unsicherheit im professionellen Handeln – und oft auch unbewusste Diskriminierung, da das Tragen von Jogginghose, das Hören bestimmter Musikrichtungen oder der Freizeitkonsum der Schüler:innen häufig mit Abwertungen oder der Vorstellung von „Dummheit“ verbunden wird. Und das merken Schülerinnen sehr genau – bis heute entscheiden die „feinen Unterschiede“ über Erfolg oder Misserfolg in der kapitalistischen Gesellschaft. Noch immer herrsche an Schulen ein „toxischer Begabungsbegriff“, der die Bedingungen des Lernens weitgehend ausblendet, beklagt Martina Zilla Seifert, die jahrelang eine Schule in Duisburg-Rheinausen geleitet hat.
Abschließend wurde über mögliche Lösungsansätze diskutiert. Neben der Forderung nach mehr Ressourcen – personell wie materiell – wurde auch betont, wie wichtig verbindliche Kooperationen zwischen Schulen und außerschulischen Partnern seien. Zudem wurde der Vorschlag eingebracht, Lehrkräfte stärker in die bildungspolitische Gestaltung einzubinden, etwa durch regelmäßige Praxisrückmeldungen in Gesetzgebungsprozesse. Auch die Abschaffung des Gymnasiums wurde als zentral angesehen. Als eine der wenigen Länder der Welt findet in Deutschland bis heute eine viel zu frühe Selektion statt, die bereits im Grundschulalter die beruflichen Perspektiven von Kindern weitgehend determiniert. Beispielsweise in skandinavischen Ländern, die bei PISA deutlich besser abschneiden, findet diese Selektion viel später statt. Auch ein anderes Berufsverständnis führt dazu, dass Probleme weniger oft „ausgelagert“ werden: So gibt es in beispielsweise kaum private Nachhilfeanbieter, da die Lehrerinnen und Lehrer „ihre“ Kinder selbst in der Schule in hierfür eigens eingerichteten Zeitslots fördern. In Deutschland fehlt jedoch, auch aufgrund des großen Drucks, den die Gymnasialeltern auf politische Akteure ausüben, der politische Wille, die starren Strukturen zu verändern und mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen.
Die Veranstaltung endete mit einem Dank an die Referentin und einem kurzen Ausblick auf mögliche Folgeveranstaltungen. Die Teilnehmenden zeigten sich engagiert und äußerten mehrfach den Wunsch nach weiterem Austausch. Insgesamt wurde deutlich, dass die Verbesserung von Bildungsgerechtigkeit ein komplexes und langfristiges Vorhaben ist – eines, das neben strukturellen Reformen auch Offenheit für biografische Erfahrungen und die Bereitschaft zur Selbstreflexion erfordert.