Linke Bildungsexperten setzen sich ab von der gemeinsamen Schule für alle

Bildungspolitisch ist ein Damm gebrochen: Zwar gab es schon länger von linker Politik und linken Erziehungswissenschaftlern Absatzbewegungen vom Ziel einer gemeinsamen Schule für alle, doch jetzt war die Absatzbewegung provokant öffentlich.

Ausgangspunkt waren eine bildungspolitische Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung im November 2018 sowie ein von der Redaktion des „Neuen Deutschland“ manipuliertes Auftakt-Interview mit dem Hauptredner der Tagung Klaus Klemm. Das Interview erschien unter dem Titel „Die Gesamtschule ist ein totes Pferd“. Der Artikel, die Tagung sowie u.a. mein schriftlicher Beitrag führten zu einem intensiven Meinungsstreit. In dessen Folge haben sich neben Bildungsforscher Klaus Klemm und dem ehemaligen Vorsitzende der GEW Nordrhein-Westfalen Alf Hammelrath andere prominente Bildungsforscher für einen Verzicht auf eine gemeinsame Schule für alle ausgesprochen.

Nachdem die Diskussion in die Öffentlichkeit getragen wurde, sollte sie dort auch ausgefochten werde. Die entscheidende Frage ist, ob sich die bildungspolitische Linke mit der Verwirklichung eines Alternativsystems aus Gymnasium und Gesamtschule in der Sekundarstufe II – einer sogenannten echten 2-Gliedrigkeit – begnügen will. Meines Erachtens sollten die Linken nicht nur konsequent am Ziel der gemeinsamen Schule für alle festhalten, sondern darüberhinausgehende bildungspolitische Konzepte entwickeln und Schritte dazu einfordern.

Im Folgenden gehe ich nur auf das Interview von Klaus Klemm[1] und auf den Beitrag von Alf Hammelrath[2] ein.

So hatte Klaus Klemm im Interview ausgeführt:

Ich halte die gemeinsame Erziehung der Kinder zumindest bis zum Ende der Schulpflichtzeit nach wie vor für sinnvoll. … Wer aber heute mit der Gesamtschule kommt, hat mit Widerständen in breiten Bevölkerungsschichten zu kämpfen. … Deshalb bin ich von meiner Forderung nach der Gesamtschule mittlerweile abgewichen.

Alf Hammelrath formulierte:

„Der Kern der Debatte kann doch nicht sein, dass eine bestimmte Schulorganisationsform … das Ziel aller Bemühungen sein kann, sondern: gute Schulen (Bildung) für alle …. Und da hilft es nicht, über den Abbau von Privilegien der Gymnasien zu reden; das ist eine, aus vielerlei hier nicht einzeln zu diskutierenden Gründen, nicht bestehbare Auseinandersetzung. Da hilft nur, sich auf die Bildungsbenachteiligten zu konzentrieren, ihnen optimale Bildungschancen zu bieten; das kostet Geld, viel Geld, und qualifizierte Planung und Wissenschaft allemal.“

Klemm und Hammelrath begründen ihre Absage an eine gemeinsame Schule für alle mit 4 Argumenten:

  • Notwendige andere Schulreformen würden durch die Konzentration auf die gemeinsame Schule für alle verdrängt,
  • mit einer positiven Diskriminierung ließen sich – unabhängig von der Schulstruktur – gute Schulen für alle realisieren,
  • die gemeinsame Schule für alle sei wegen eines breiten gesellschaftlichen Widerstandes nicht durchzusetzen und
  • keine Partei sei bereit, die gemeinsame Schule für alle zu realisieren.

Weder andere Schulreformen noch positive Diskriminierung sind Alternativen

Die folgende Argumentation geht wegen der völlig zersplitterten Schulstruktur in Deutschland der Einfachheit halber davon aus, dass sich in Deutschland in absehbarer Zeit überwiegend ein alternatives System von Gymnasium und Gesamtschule – die sogenannte echte 2-Gliedrigkeit – durchsetzen wird.

Für Hammelrath wird mit dem Festhalten an der gemeinsamen Schule für alle „der Blick genau auf ein Schulsegment verengt, der Blick etwa auf Berufskollegs und auf Grundschulen geht verloren“.

Hammelrath übernimmt damit eine Argumentation der KMK, die auf den PISA-Schock hin versucht hatte, von dem Wiederaufflammen der Gesamtschuldebatte mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Elementar-, Grundschulbereich und Ganztagsschule abzulenken.  Doch der beste Grundschulbereich schafft die optimale Chancengleichheit und soziale Integration nicht, solange danach weiterhin eine soziale Selektion zwischen Gymnasium und Gesamtschule besteht. Denn die Jugendlichen beider Schulformen werden sich leider auch künftig sozial, ethnisch und beim Umfang eines besonderen Förderbedarfs deutlich unterscheiden. Trotz der begonnenen Strukturreformen sind in Deutschland die sozialen Chancen noch immer so ungleich und der soziale Aufstieg so gering wie in kaum einem OECD-Staat. Der Hauptgrund ist die schulische Separation innerhalb der Sekundarstufe I. Der Verzicht auf eine gemeinsame Schule für alle ist unverantwortlich, solange Chancen bestehen, die gemeinsame Schule in Schritten durchzusetzen.

Die von Hammelrath geforderte Weiterentwicklung der Sekundarstufe II ist notwendig, aber erstens sind seine Vorstellungen zu vorsichtig, und zweitens machen Reformen der Sekundarstufe II eine Reform der Sekundarstufe I nicht überflüssig. Längst sollten linke Bildungsexperten Konzepte für eine Oberstufe und ein Studium für möglichst alle entwickeln und sich dafür einsetzen, sie in Schritten durchzusetzen. Die drastische Veränderung der Arbeitswelt durch die Digitalisierung und der Kampf gegen die zunehmende ökonomische Ungleichheit fordern einerseits eine deutliche Zunahme akademischer Ausbildung. Andererseits verlangt die Gefährdung von Gesellschaft, Demokratie und Multilateralismus durch Populismus, Rassismus und Autoritarismus eine längere Allgemeinbildung für alle. Die Konzepte der 60er und 70er Jahre reichen nicht mehr aus.[3]

Aber solche Konzepte für die Oberstufe und für ein Studium für möglichst alle kann man nicht gegen die gemeinsame Schule für alle ausspielen. Mehr an gleicher Bildung und Ausbildung in der Sekundarstufe II und im Tertiärbereich durchsetzen zu wollen und gleichzeitig auf eine gemeinsame Bildung in der Sekundarstufe I zu verzichten, ist widersinnig.

Positive Diskriminierung ersetzt nicht die gemeinsame Schule für alle

Hammelrath begründet den Verzicht auf eine gemeinsame Schule für alle zudem mit dem Argument, nicht die Schulstruktur sei entscheidend, sondern die gute Schule.

„Der Kern der Debatte kann doch nicht sein, dass eine bestimmte Schulorganisationsform … das Ziel aller Bemühungen sein kann, sondern: gute Schulen (Bildung) für alle“.

 

Diese These gegen eine gemeinsame Schule für alle ist eine Popularisierung der Meta-Analyse von John Hattie. Sie wurde von konservativer Seite sofort gegen die Gesamtschule in Stellung gebracht. Doch die Schlussfolgerung, es komme nicht auf die Struktur, sondern auf die Einzelschule an, beruft sich zu Unrecht auf Hattie. Bei Hatties Kritik an der Überschätzung von Strukturreformen nimmt er Schulen mit starker sozialer Schichtung – mit stratification – ausdrücklich aus:

„The Situation is quite different in less resourced nations (e.g., throughout Affica) where most variability is between schools (Bosker & Witziers, 1996); and in countrjes where there are high levels of stratification in school types (e.g., academic and vocational).“ (Hattie, Visibel Learning, 2009, S. 73).

Trotz der bisherigen Reformen weist das deutsche Bildungswesen diese Stratifikation in extremem Umfang auf und wird sie auch bei einer echten 2-Gliedrigkeit in starkem Maße behalten.

Nun wollen Klemm und Hammelrath den Verzicht auf eine gemeinsame Schule für alle durch eine positive Diskriminierung von sozial Benachteiligten kompensieren.

„Da hilft nur, sich auf die Bildungsbenachteiligten zu konzentrieren, ihnen optimale Bildungschancen zu bieten; das kostet Geld, viel Geld, und qualifizierte Planung und Wissenschaft allemal.“ (Hammelrath).

Die Argumentation ist wenig überzeugend; denn die Wirkung einer positiven Diskriminierung ist mäßig und ihre Finanzierung kritisch:

  • Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt die geringe Wirkung zusätzlicher Ressourcen ab einem gewissen Level. Nun hat PISA ergeben, dass eine positive Diskriminierung sozial benachteiligte Schulen fördert aber mit schwachem Effekt.
  • Das viele Geld, das Hammelrath fordert, müsste nicht nur für die benachteiligten Schülerinnen und Schüler fließen, sondern grundsätzlich für alle Gesamtschulen. Denn da eine soziale Streuung nicht nur zwischen den Schülerinnen und Schülern, sondern auch zwischen den Schulformen besteht, müssten grundsätzlich alle Gesamtschule zusätzliche Mittel in erheblichem Umfang erhalten. Ob die Politik willens und fähig ist, beachtliche zusätzliche Ressourcen für grundsätzlich alle Gesamtschulen und verstärkt darüber hinaus für Einzelschulen zu Verfügung zu stellen, ist mehr als zweifelhaft. Schon bisher stürzten sich die bürgerlichen Parteien auf die Zuschläge, die Gesamtschulen für Ganztag, Förderung und Differenzierung erhielten.

Mit erheblichen zusätzlichen Ressourcen ist die soziale Diskriminierung von Gesamtschulen in einer echten 2-Gliedrigkeit nicht zu beheben noch sind solche Mittel dauerhaft durchzusetzen – die gemeinsame Schule für alle bleibt unabdingbar.

Der gesellschaftliche Widerstand gegen die Gesamtschule als Alternative zum Gymnasium ist implodiert

Klemm und Hammelrath geben das Ziel der gemeinsamen Schule für alle auf. Ihr Pessimismus beruht auf folgenden drei gesellschaftlichen, politischen und strategischen Annahmen:

  • Die gesellschaftliche Ablehnung einer gemeinsamen Schule für alle sei unüberwindbar, da die Aufgestiegenen kein Interesse am Aufstieg weiterer Personen hätten,
  • die Politik werde die gemeinsame Schule für alle nie durchsetzen, denn
  • eine gemeinsame Schule für alle setze die Aufhebung der Gymnasien voraus.

Hammelrath ist von der Auseinandersetzung um die Kooperative Schule in Nordrhein- Westfalen von 1978 geprägt, mit der er ausdrücklich seinen Defätismus begründet:

„Klaus Klemm aber hat, unter der in ihrer Dialektik sehr nachdenklich machenden Überschrift „Wer aufsteigt, schafft das Tal nicht ab“, aus meiner Sicht eine sehr klare Analyse vorgelegt; man hätte sie auch anders formulieren können: die Bildungsoffensive der 70er und 80er war so erfolgreich, dass die Aufgestiegenen das Tal brauchen, um weiter oben zu sein. Damals hatte ich, als GEW-Vorsitzender NRW, zu erleben, wie die damals mit absoluter Mehrheit regierende SPD noch nicht einmal innerhalb ihrer Fraktion eine Mehrheit für eine stärkere Expansion der Gesamtschule zustande brachte; der Grund hierfür, der mir von Abgeordneten auch ganz offen dargelegt wurde, war weniger: damit gewinnt man keine Wahlen, das auch, sondern mehr: glaubst du wirklich, dass Bildungsaufsteiger an der Gleichheit interessiert sind?Nicht zu unterschlagen ist auch das klägliche Ende der Schwierschen Kooperativen Schule“.

Mit dem Erfolg des Volksbegehrens gegen die Kooperative Schule begann die gesellschaftliche und politische Konfrontation um die Gesamtschule. Dabei ging es nur um die gesetzliche Ermächtigung für Kommunen, Kooperative Schulen mit getrennten Bildungsgängen einzurichten, wobei allerdings für das 5. Und 6. Schuljahr eine integrierte Orientierungsstufe vorgesehen war. So riefen Schüler Union und Junge Union gegen das „Gesetz zur Einführung der Kooperativen Schule – dem Schleichweg zur sozialistischen Einheitsschule“ auf. Für viele Jahre stießen sehr viele Gesamtschul-Anträge auf einen gesellschaftlichen und politischen Glaubenskrieg in Gemeinden und Ländern. Es wehrten sich zumeist nicht nur Gymnasien, sondern auch Realschulen und Hauptschulen mit ihrer Anhängerschaft gegen eine Errichtung von Gesamtschulen. Es war die schärfste Konfrontation um innenpolitische Themen in Nachkriegs-Westdeutschland.

In der damaligen Situation haben viele befürchtet, dass die gemeinsame Schule für alle nie durchsetzbar sein werde. Doch seit mehr als 2 ½ Jahrzehnten – nach dem PISA-Schock – mobilisiert das Schreckensbild der sozialistischen Einheitsschule keine Massen mehr. Das Gegenteil trat seitdem ein: Teile der Gesellschaft verlangen, die übrigen akzeptieren bzw. tolerieren zumindest die breite Ersetzung nicht-gymnasialer Schulformen durch Gesamtschulen. Die Einstellung zur Gesamtschule hat sich erheblich verändert:

  • In Baden-Württemberg hatten im Jahre 2007 mehr als 400 Hauptschulleiter die Aufhebung der Hauptschule zugunsten längeren gemeinsamen Lernens gefordert. Die im Jahre 2011 gebildete grün-rote Landesregierung ermöglichte die Umwandlung von Schulen zu Gesamtschulen auf Antrag der Schulträger mit Zustimmung der Schulkonferenz. In einem Bundesland fast ohne Gesamtschulerfahrung entstanden innerhalb von 5 Jahren fast 300 Gesamtschulen. Für ein Bundesland mit einer bis dahin sehr konservativ geprägte Schulpolitik ist das ein kaum vorstellbarer Umbruch. Die Hauptschulen und ihr Schulklientel haben Gesellschaft und Politik überrannt. Ein breiterer gesellschaftlicher Widerstand blieb trotz der Gegnerschaft der Landes-CDU aus.
  • In Nordrhein-Westfalen wurde ein Schulfrieden zwischen der rot-grünen Landesregierung und der CDU geschlossen. Die Verfassungsänderung hob den Bestandschutz für die Hauptschule auf, mit dem die Errichtung von Schulen des gemeinsamen Lernens – aber nur auf Antrag der Schulträger – erleichtert wurde. 200 Schulen des gemeinsamen Lernens entstanden innerhalb einer Legislaturperiode auf kommunaler Initiative. Ein Struktur-Durchbruch auf Druck der Basis.
  • 5 Bundesländer – die Stadtstaaten sowie das Saarland und Schleswig-Holstein – setzten nach dem PISA-Schock die umfassendste Schulstrukturreform in Nachkriegs-Westdeutschland in ihren Ländern durch: die Gesamtschule wurden zur Mehrheitsschule, alle nicht-gymnasialen Schulformen der Sekundarstufe I liefen aus. Es gab so gut wie keinen gesellschaftlichen Widerstand.

Nur in Schleswig-Holstein initiierte der Realschullehrerverband mit Unterstützung der FDP ein Volksbegehren zum Erhalt der Realschulen. Dieses scheiterte schon in der ersten Stufe. Selbst der Landeselternrat der Realschulen hatte sich gegen das Volksbegehren gestellt. In Hamburg gab es zwar einen erfolgreichen Bürgerentscheid, aber der richtete sich nicht gegen die Durchsetzung der Gesamtschule, sondern gegen die 6-jährige Primarstufe und die Einschränkung des Elternrechts.

Der gesellschaftliche Widerstand gegen die Gesamtschule als Ersatz der nicht-gymnasialen Schulformen ist in diesen 7 Bundesländern implodiert. Statt eines diffamierenden Widerstandes gegen fast jede neue Gesamtschule gut 2 ½ Jahrzehnte zuvor wurde der Durchbruch für die Gesamtschule zum Teil auf Druck der Gesellschaft und zum anderen auf deren Akzeptanz oder Tolerierung hin realisiert. Der Zusammenbruch des Feindbildes wurde durch gute Arbeit der Gesamtschulen, durch zunehmende Aufklärung und durch den PISA-Schock möglich.  Dieser hatte das selbstgefällige Bild Westdeutschlands über sein angeblich weltweit vorbildliches Schul- und Bildungssystem zutiefst erschüttert.

Die Gesellschaft akzeptiert in beachtlichen Teilen Deutschlands den Bildungsaufstieg der Sozial- und Bildungsbenachteiligten, d.h. die Einstellung der Gesellschaft zur Gesamtschule hat sich verändert und ist auch künftig veränderbar. Auch das Bildungsbürgertum toleriert schon jetzt in Teilen der Republik die Gleichstellung aller Schulen der Sekundarstufe I mit dem Gymnasium.

CDU hat in Teilen der Republik bildungspolitisch kapituliert

Der Hauptgrund für Klemm, sich von dem Ziel der gemeinsamen Schule für alle zu verabschieden, ist kein Zutrauen in die linken Parteien, sich politisch gegen den gesellschaftlichen Widerstand durchzusetzen:

„Wer aber heute mit der Gesamtschule kommt, hat mit Widerständen in breiten Bevölkerungsschichten zu kämpfen. Das will niemand riskieren, nicht in mei­ner Partei, der SPD, und ich denke, auch in der Linkspartei nicht.“

Und Hammelrath formuliert:

Mir stecken die damaligen Debatten (um die Koop-Schule, JL) noch so in den Knochen, dass ich Klaus‘ Hinweis, auf diese Debatten habe er keine Lust mehr, sehr erfrischend und nachvollziehbar fand und finde.“

Ich gebe zu, dass nach meiner Ansicht zurzeit keine Führungsspitze einer linken Partei die gemeinsame Schule für alle durchsetzen will und derzeit meines Erachtens auch nicht erfolgreich durchsetzen könnte.

Daraus aber kann man nicht folgern, dass die linken Parteien grundsätzlich nicht bereit sind, die gemeinsame Schule für alle zu realisieren.  Die Bereitschaft hängt entscheidend von 2 Faktoren ab:

  • den politisch handelnden Personen und
  • der von ihnen eingeschätzten gesellschaftlichen und politischen Situation.

Die politisch handelnden Personen auch in linken Parteien unterscheiden sich – wie Menschen überhaupt – deutlich in ihrer Risikobereitschaft. Häufig genug gab es bildungspolitisch hinreichenden Grund, sich über fehlenden Mut der linken Entscheidungsträger aufzuregen.

Wie grotesk auch linke politische Entscheidungsträger die gesellschaftliche und politische Situation fehleinschätzen können, zeigten die Kultusminister nach dem PISA-Schock im Jahre 2002. Einmütig versicherten sich die Kultusminister in der KMK gegenseitig – die linken wohl aus Furcht vor einem Wideraufleben der Konfrontation -, die Schulstrukturdebatte nicht wieder aufzurollen. Wenig später setzte die SPD-Basis gegen den Widerstand der Kultusministerin in Schleswig-Holstein durch, den Vorschlag von Ernst Rösner ins Landtagswahlprogramm aufzunehmen. Die folgende große Koalition setzte als erstes Bundesland die echte 2-Gliedrigkeit– anfänglich mit dem Schönheitsfehler einer zusätzlichen Regionalschule – fast ohne Widerstand durch, denen dann die Stadtstaaten und das Saarland folgten.

Eine kaum zu erwartende Kehrtwende hat die CDU – nicht aber die CSU – vollzogen. Statt der schärfsten innenpolitischen Konfrontation bekennt sich die CDU-Spitze zum 2-Wege-Modell und trägt überwiegend den Durchbruch der Gesamtschule in den 7 Bundesländern mit.

Auf Bundesebene legte die damalige Bildungsministerin und stellvertretende Parteivorsitzende Schawan im Jahre 2011 dem Bildungskongress der CDU ein 2-Wege-Modell vor, das neben dem Gymnasium nur noch eine Oberschule vorsah, mit dem sie allerdings an der Basis auf Widerstand stieß.  Das Modell war keine echte 2-Gliedrigkeit, es ließ aber zu, dass die Oberschule auch eine gymnasiale Oberstufe haben könne.

Dass der Durchbruch der Gesamtschule in diesem Jahrhundert in mehreren Bundesländern gelang, dafür ist die CDU fast überall mitverantwortlich. Ihre Kehrtwende hat zum Teil erst den Durchbruch ermöglicht:

  • In Baden-Württemberg polemisierte die CDU in ihrem Landtagswahlprogramm 2016 zwar gegen die errichteten Gesamtschulen, garantierte aber gleichzeitig ihren Bestand.
  • In Berlin hatte die CDU ein Konzept des Nebeneinanders von Gesamtschule und Gymnasium vorgelegt, um weitergehende Strukturreformen der SPD zu verhindern. Der SPD-geführte Senat legte daraufhin seinerseits ein Gesetz zur Einführung der echten 2-Gliedrigkeit vor.
  • In Bremen war die CDU bereit, unter der Bedingung eines befristeten Schulfrieden einer echten 2-Gliedrigkeit zuzustimmen – wohl, um weitergehende Vorstellungen der SPD zu verhindern.
  • In Hamburg machte die CDU um ihrer Regierungsführung willen den Grünen fast unvorstellbare Zugeständnisse: die gleichzeitige Einführung einer 6-jährige Primarstufe, die Einschränkung des Elternrechts bei der Schulwahl, die echte 2-Gliedrigkeit mit Ganztagsschule und gymnasialer Oberstufe an jeder Gesamtschule sowie eine schnelle Verwirklichung der Inklusion. Das erfolgreiche Volksbegehren wandte sich nur gegen die ersten beiden Punkte.
  • In Nordrhein- Westfalen beruht die Verfassungsänderung und das Schulgesetz auf einem mit der CDU ausgehandelten befristeten Schulfrieden.
  • Im Saarland einigte ich die große Koalition auf ein zweisäuliges Alternativsystem.
  • In Schleswig-Holstein war die CDU im Jahre 2005 zur Bildung einer CDU/SPD-Landesregierung bereit, Haupt- und Realschule zugunsten der Gesamtschule bzw. einer weiteren Schulform, die nur Haupt- und Realschulbildungsgänge integrierte, aufzugeben. Diese von der CDU gewünschte sogenannte Regionalschule stieß auch bei der kommunalen CDU-Basis auf so geringes Interesse, dass sie inzwischen aufgehoben wurde.

Die Gründe für die Kehrtwende der CDU in diesen Bundesländern sind die rückläufigen Schülerzahlen insgesamt, die zurückgehenden Übergangsquoten zu den Hauptschulen, das kommunale Interesse am Erhalt und an der Aufwertung von Schulen und Schulstandorten sowie vor allem die Nachfrage nach Gesamtschulplätzen und die Erfolge der Gesamtschulen bei der Förderung und bei den Abschlüssen. Hinzu kam das Interesse der CDU in Hamburg und Schleswig-Holstein an der Regierungsübernahme, für die man bereit war, Ideologien abzustoßen. Die Kehrtwenden sind Teil der Geschichte des Konservativismus. Es wird sie auch künftig geben.

Linke Politik traut sich

Der Vorwurf von Hammelrath und Klemm, dass den linken Parteien der Mut zu schulischen Strukturreformen fehle, stimmt in Einzelfällen, ist generell aber falsch. Der Durchbruch der Gesamtschule in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sowie die Durchsetzung der echten 2-Gliedrigkeit sind die umfassendste Reform der Schulstruktur in diesen Ländern. Es ist zugleich der bedeutendste Schritt hin zur gemeinsamen Schule für alle:  Die Gesamtschule wird in 5 Ländern zur Mehrheitsschule. Sie und ihre Anhängerschaft werden zum wichtigen Faktor zur Realisierung der gemeinsamen Schule.

Für diese Reformen tragen Grüne und SPD die Hauptverantwortung. Sie waren zu erheblichen Risiken bereit:

  • In Baden-Württemberg war das Wagnis besonders groß. Es gab fast keine Erfahrungen mit der Gesamtschule. Die Grün-SPD-Regierung war innovativ sowohl bei den Konzepten als auch bei den Strategien: sie ging von kleinen, vor allem aus Hauptschulen umgewandelten Gesamtschulen aus und setzte auf Schule und Schulträger. Es war ein großes Wagnis: würden sich diese ehemaligen Hauptschulen neben Realschule und Gymnasium bewähren, oder würde es ein Reinfall, wie es nicht nur die Opposition, sondern auch linke Erziehungswissenschaften und Gesamtschulkreise prophezeiten? Dies hätte die Regierungsfähigkeit gefährden und die Gesamtschulidee stark beeinträchtigen können.
  • In Nordrhein-Westfalen hatte die SPD-Grüne-Landesregierung die Gesamtschulen unter dem Versuchsparagraphen auszubauen versucht und war vor dem Landesverfassungsgericht gescheitert. Sie stand vor einer Wahl zwischen weiteren rechtlich stark gefährdeten Versuchen oder Verhandlung mit einer bildungskonservativen CDU über eine Verfassungsänderung oder dem Verzicht auf einen Ausbau der Gesamtschule. Die Zugeständnisse der Regierung an die CDU stießen auf herbe Kritik von links. Der erfolgreiche Durchbruch bei den Schulen des gemeinsamen Lernens gab der Landesregierung recht.
  • Linke Parteien der fünf Bundesländer Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein hatten in den Wahlkämpfen für die Einführung der echten 2-Gliedrigkeit gestritten. Bei ihrer Durchführung setzten sie auf eine neue Strategie: Waren die Gesamtschulen bisher vor allem auf Planungen und Beschlüsse von Schulen, Schulinitiativen und Kommunen entstanden, so erfolgte die Umstellung jetzt von oben – durch den Landtag und die Kultusverwaltung. Es wurden bedeutend mehr Gesamtschulen z.T. innerhalb eines Jahres bzw. innerhalb einer Legislaturperiode gegründet als 40 Jahre zuvor. Die bisher überwiegend individuelle Planung, Lehrkräftefindung und -fortbildung entfiel weitgehend. Die Bereitschaft bzw. der mögliche Widerstand bei Lehrkräften, Eltern und Verbänden war nicht vorauszusehen. Deutliche Kritik kam aus vielen Gesamtschulkreisen und ihnen nahestehenden Organisationen. Skepsis war auch angebracht, ob die neuen Schulen des gemeinsamen Lernens in absehbarer Zeit mehr Förderung und höhere Leistung erbringen als die vorausgegangenen Schulen und ob sie als gleichwertig mit den bisherigen Gesamtschulen angesehen würden. Vorteil der 5 Länder war, dass sie voneinander lernen konnten.

Es gibt einen Nachjustierungsbedarf zumindest in einigen der 7 Bundesländer, aber insgesamt war die Umstellung ein bildungspolitischer Erfolg sowie ein politischer Erfolg für die linken Parteien in den Landesregierungen.

In den genannten Ländern haben linke Parteien deutlich Mut zu schulischen Strukturreformen bewiesen. Das war zum Teil nicht nur mutig, sondern todesmutig:

  • In Hamburg hatten die Grünen der CDU zu viele Reformen auf einmal abgetrotzt, so dass sie bildungspolitisch mit einem Teil der Vorhaben durch ein Volksbegehren scheiterten und zusammen mit der CDU die folgende Landtagswahl verloren.
  • In Nordrhein-Westfalen wird die Niederlage der SPD-Grünen-Regierung nicht auf den Durchbruch bei der Gesamtschule, aber oft auf die zu schnelle Umsetzung der Inklusion zurückgeführt.

Linke Parteien haben mit der Einführung der echten 2-Gliedrigkeit bewiesen, dass sie zu Bildungsreformen bereit sind, die den sozial und Bildungsbenachteiligten die Chance zum Bildungsaufstieg ermöglichen. Diese Reformen gehen erheblich weiter als das Konzept der gescheiterten Koop-Schule in Nordrhein- Westfalen.

Nun wird man einwenden, linke Politiker mögen zwar viel erreicht haben, trauen sich aber nicht an das Gymnasium und seine Privilegien heran.

Auch diese Behauptung ist falsch. Richtig ist, dass linke Politik teilweise schon bereit war, Privilegien in Schritten zu reduzieren.

  • Das wichtigste Privileg des Gymnasiums war historisch das Abiturmonopol. Nur das Gymnasium konnte die Hochschulreife verleihen. Es hat sich dieses Recht in der westdeutschen Nachkriegszeit immer stärker mit dem beruflichen Gymnasium, der Fachoberschule und der Gesamtschule teilen müssen. Mit dem Deutschen Qualifikationsrahmen aus dem Jahre 2013 erhalten auch mindestens dreijährige schulische und duale Ausbildungsgänge -zumeist mit zusätzlicher Berufspraxis und weiteren Einschränkungen – die Hochschulzugangsberechtigung.
  • Weitere Privilegien sind das Recht auf die Schülerauslese – beim Übergang sowie innerschulisch durch die Abschulung. Die drei Stadtstaaten haben erste Eingriffe in das gymnasiale Privileg der Schülerselektion verwirklicht. So wurde den Gymnasien die Abschulung nur noch zu einem Termin innerhalb der Sekundarstufe I zugestanden und ihnen in Bremen dieses Recht entzogen.
  • Berlin hat den Gymnasien darüber hinaus das Recht auf Auswahl von Schülerinnen und Schüler beim Übergang genommen: bei überzähliger Anmeldung entscheidet neben anderen Kriterien das Los über den Schulplatz. Die Übergangsselektion ist das wichtigste Privileg des Gymnasiums. Mit dem Eingriff in dieses Privileg weist die Berliner Landesregierung über ein zweisäuliges Alternativsystem hinaus.
  • Zusätzlich bestand seit alters her eine ständische Lehrerbildung. Mit der Durchsetzung der echten Zweigliedrigkeit konnten die Gesamtschulen Druck auf die Landesregierungen ausüben, dass eine ständische Lehrerbildung und -besoldung ein Verstoß gegen die Gleichstellung von Gymnasium und Gesamtschule wäre. In den drei Stadtstaaten wurde daraufhin ein jahrhundertaltes Versprechen linker Politik auf eine einheitliche Lehrerbildung und -besoldung realisiert, welche die Jamaika-Regierung in Schleswig-Holstein allerdings wieder aufhebt.

Die gymnasialen Privilegien sind für linke Parteien kein Tabu, vielmehr haben sie die Stadtstaaten in ersten Schritten eingeschränkt. Vorurteile gegenüber (linken) Parteien sind wohlfeil. Sie begründen Defätismus, verhindern aber bildungspolitische Wirksamkeit.

Das Gymnasium lässt sich nicht aufheben, aber mit der Gesamtschule vereinen

Über die Zukunft einer gemeinsamen Schule für alle entscheiden in erheblichem Umfang die Konzepte und Strategien. Linke Parteien müssen realisierbare Schritte zur Durchsetzung ihrer Ziele erkennen, denn zu politischem Versagen sind sie nicht bereit, sollten sie auch nicht, denn eine Niederlage ist bildungspolitisch zumeist nicht zielfördernd.

  • Nordrhein-Westfalen hat den Durchbruch bei Schulen des gemeinsamen Lernens allein mit der Aufhebung der Hauptschulgarantie geschafft, für deren Umsetzung nur die Kommunen zuständig wurden.
  • Die Gesamtschul-Explosion in Baden-Württemberg basierte auf 4 Besonderheiten:
    • Annahme, dass Gesamtschulen klein und nicht einmal von Anfang an zweizügig sein müssen,
    • eine bewusste Bottom-up-Strategie mit einem Initiativrecht ausschließlich bei den Schulträgern,
    • Umwandlung bestehender Schulen statt einer Aufhebung bestehender Schulen und Neuerrichtung von Gesamtschulen und
    • das Wagnis, dass selbst aus Hauptschulen entstandenen Gesamtschulen vollwertig sind.

Die Bereitschaft, Ziele in Schritten, also strategisch zu erreichen, ist bei Linken oft nicht ausgeprägt. So kann sich Klemm für die Durchsetzung der gemeinsamen Schule für alle nur die Aufhebung des Gymnasiums vorstellen:

„Würde eine Landesregie­rung heute die Gesamtschule für alle durchsetzen wollen, musste sie dies praktisch gegen den Widerstand na­hezu aller Eltern, deren Kinder auf dem Gymnasium sind, durchsetzen…“ (Klemm).

Auf meine Kritik, dass eine Aufhebung des Gymnasiums eine unrealistische, überholte Strategie sei und dass stattdessen eine Vereinigung von Gesamtschule und Gymnasium anzustreben sei, entgegnete Hammelrath:

„Nein, Joachim Lohmann, ich widerspreche Dir entschieden: weder denkt Klaus Klemm in „überholten Strategien“, dieses Vedikt fällt aus meiner Sicht gerade auf dich zurück, noch geht es um eine „Vereinigung von Gesamtschule und Gymnasium“.“

Doch Dialektik macht aus einer Kapitulation keinen Sieg. Mit Konsequenz das Ziel zu verfolgen und strategisch zu denken, das sind die Bedingungen, um die gemeinsame Schule für alle zu verwirklichen. Der Strategieverzicht führt dagegen zum Defätismus.

Das gilt besonders auch für die Ablehnung einer Aufwertung und Vereinigung der Gesamtschule mit dem Gymnasium. Diese Position ist außerdem unhistorisch, denn die Aufwertung benachteiligter Schultypen und ihre Vereinigung mit den privilegierten Schulen war der Königsweg der Organisationsreform des deutschen Schul- wie Hochschulwesens der letzten zwei Jahrhunderte.

Historisch gesehen hat sich noch nie eine Parallelität von ähnlichen Schul- und Bildungstypen auf der gleichen Bildungsstufe für längere Zeit gehalten.

  • Die anspruchsloseren Volksschultypen wie Fabrikschule und ländliche Halbtagsschule wurden in die allgemeine Volksschule eingegliedert.
  • Im Primarbereich wurde die gymnasiale Vorschule nach schweren Auseinandersetzungen in der Weimarer Zeit in die Volksschule eingegliedert.
  • Die verschiedenen mittleren Schultypen wurden mit der das „Einjährige“ verleihenden Realschule zusammengeführt.
  • Im höheren Schulwesen wurden die nichthumanistischen höheren Schulen zu Oberrealschulen und Realgymnasien, um dann im allgemeinen Gymnasium vereint zu werden.
  • Darüber hinaus wurden die Konfessionsschulen weitgehend zu Simultanschulen und die geschlechtergetrennten Schulen überwiegend in Koedukationsschulen umgewandelt sowie das eigenständige höhere Mädchenschulwesen in Gymnasien umgewandelt.
  • Auch die in Nachkriegsdeutschland bestehenden verschiedenen Hochschulformen wurden überwiegend entweder zu Universitäten aufgestockt oder in bestehende Universitäten integriert.

Triebfedern dieser Integration waren die Anspruchssteigerung bzw. der Aufwertungswille der unterprivilegierten Schul- und Hochschultypen, der Bildungswille der Eltern, nicht mehr überzeugende Gründe der Trennung sowie der Aufwand für die Separation, der insbesondere im ländlichen Raum nicht durchzuhalten war.

Auch eine echte 2-Gliedrigkeit wird sich nicht als stabil erweisen, auch ihre Annäherung und letztlich Vereinigung wird gelingen. Stattfundamentale Ziele aufzugeben, sollte man zu strategischem Denken bereitsein.

Gesellschaftliche und politische Kräfte werden auf einer gemeinsamen Schule für alle bestehen

Gesellschaftliche und politische Vorurteile gegenüber der Gesamtschule werden sich längerfristig abbauen – trotz der erheblich größeren Herausforderungen auf Grund der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft.

Bisher übernimmt die Gesamtschule im Vergleich zum Gymnasium

  • den größten Anteil der gestiegenen Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund,
  • fast ausschließlich die Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf,
  • in der echten 2-Gliedrigkeit vor allem Schülerinnen und Schüler, die vor dem Strukturdurchbruch vornehmlich Haupt- und Realschule besucht haben und
  • die Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium entweder auf Grund bestehenden Rechts oder auf Grund von Elternüberredung abschiebt.
  • Die Siedlungsstruktur verschärft oft zusätzlich die Herausforderung für die Gesamtschulen.

Doch die Gesamtschulen mussten schon immer im Schnitt mit diesen einseitigen Herausforderungen arbeiten, auch deren Umfang ist in den 7 Bundesländern angestiegen, auch wenn die Politik erste Maßnahmen gegen die gymnasiale Abschulung ergriffen hat und die Gesamtschulen teilweise positiv diskriminiert.

Doch die Gesamtschulen haben schon in der Vergangenheit die Herausforderungen erstaunlich gut bewältigt. Die Nachfrage überschritt in vielen Ländern das Angebot: es gab eine Abstimmung mit den Füssen. Die Gesamtschulen hatten überwiegend ein besseres Schulklima, haben stärker gefördert und bedeutend mehr Schülerinnen und Schüler – als ihnen prognostiziert wurde – zu höheren Abschlüssen geführt. Vor allem sind einzelne Gesamtschulen zu bundesweit anerkannten Modellschulen geworden.

Auch die neuen Gesamtschulen haben den schulischen Umbruch in den 7 Bundesländern unter den anderen Ausgangsbedingungen beachtlich gut gemeistert. Es ist davon auszugehen, dass die neuen Schulen überzeugender fördern und mehr qualifizieren als ihre Vorgängerschulen und dass die noch vorhandenen Vorurteile weiter abbauen werden und ihr Ansehen steigt.

Die jetzt teilweise durchgesetzte echte 2-Gliedrigkeit ist zwar eine schulische Verbesserung, aber eine stabile Dauerlösung wird sie nicht werden:

  • Für die Gesamtschulen ist und bleibt die Schülerselektion ein ständiges Ärgernis: Warum sollen sie eine strukturbedingte einseitige Schülerzusammensetzung akzeptieren und warum akzeptieren, dass das Gymnasium vermeintlich schwache Schülerinnen und Schüler abschieben kann. Vielmehr werden Gesamtschulen mitsamt ihren Lehrkräften, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler und von den nahestehenden Verbänden weiterhin Proteste erheben sowie die gemeinsame Schule für alle fordern.
  • Wirtschaft und Gesellschaft werden wegen der Arbeit 4.0 einen weiter steigenden Bedarf an Hochqualifizierten anmelden, doch diesen zu stillen, ist durch die selektive Schulstruktur gedrosselt.

Die Aufrechterhaltung eines Parallelsystems – also der echten 2-Gliedrigkeit – ist zudem aufwendig und eine Belastung vor allem für den ländlichen Raum:

  • Rückläufige Schülerzahlen im ländlichen Bereich werden in den Kommunen die Angst vor der Aufhebung, Zusammenlegung oder Verlagerung von Schulen sowie vor allem vor dem Verlust als Schulstandort schüren.
  • Mancher Schulträger wird seine Gesamtschule durch das Auspendeln von Gymnasiasten gefährdet sehen bzw. ihren Standort durch eine gemeinsame Schule für alle aufwerten.
  • Letztlich drücken auch die Gemeinden, Kreise und Länder die Kosten eines parallelen Schulsystems, besonders auch die Transportkosten.

Die linken Parteien werden durch die gesellschaftliche und globale Entwicklung immer wieder auf das Thema der längeren gemeinsamen Bildung und Ausbildung gestoßen werden.  Bildung ist innenpolitisch die wichtigste Antwort auf die Arbeit 4.0, die ökonomische Ungleichheit und die gesellschaftliche und politische Spaltung.

Das totgesagte Projekt einer gemeinsamen Schule für alle ist weder gestorben noch wird es sterben. Gesellschaftliche Kräfte werden dafür einstehen und linke Parteien werden das Ziel einer gemeinsamen Schule für alle mit unterschiedlichem und wechselndem Elan verfolgen.

Keinen Status der Gesamtschule als Juniorpartner akzeptieren, sondern auf weitere Schritte drängen

Sich nur als Gesamtschule neben dem Gymnasium zu sehen, bloß auf eine positive Diskriminierung zu setzen, reicht nicht. Wir verlören das Ansehen, dass sich die Gesamtschule erkämpft hat.

Wir sollten uns gegenüber Politik und Verwaltung dafür einsetzen, dass sie bessere Bedingungen für die Gesamtschule schaffen, damit die Jugendlichen breiter und individueller gefördert werden und länger lernen können und die Bewertung und Abschlüsse individualisiert werden.  Wir sollten die alten und teilweise realisierten Überzeugungen wieder aufgreifen und weitergehende Forderungen stellen.

Eine breitere und individuellere Förderung bedeutet u.a.:

  • Erziehung- und Bildung umfassender zu verstehen und der Schule mehr Raum und Zeit für Erziehung zu Selbstständigkeit, sozialem Engagement, Verantwortung und Teamarbeit zu geben,
  • in der Sekundarstufe I wie II individueller Profile bilden zu können,
  • den Schulen genügend Freiraum für neue Lernformate wie außerschulische Projekte, Lernexpeditionen ins In- wie ins Ausland und für inner- und außerschulische Projekte zu geben sowie
  • insgesamt die Schulautonomie mit Freiheiten gegenüber Lehrplan und Stundentafel zu erweitern.

Längeres Lernen würde heißen:

  • getrennte Bildungsgänge zugunsten nur eines für Gesamtschule und Gymnasium einheitlichen Bildungsganges aufzugeben, der auf die Hochschulreife ausgerichtet ist, aber andere Abschlüsse ermöglicht, – wie dies weitgehend in Bremen geschehen ist -,
  • die Schulpflicht auf mindestens 10 Jahre zu erweitern,
  • ein einheitlicher mittleren Abschuss zu schaffen,
  • die gymnasiale Oberstufe für alle Abgänger der Sekundarstufe I zu öffnen und
  • möglichst jeder Gesamtschule eine gymnasiale Oberstufe zu geben, um die Bereitschaft der Jugendlichen zum längeren Lernen zu erhöhen und die Gesamtschule ohne Oberstufe aufzuwerten. Die Leistungsfähigkeit kleiner Oberstufen sollte durch einen vornehmlich jahrgangsübergreifender Projektunterricht gesichert werden.

Bewertung und Abschlüsse sollten reformiert werden, um das Lernen weniger auf Klausuren, Zeugnisse und Abschlüsse zu orientieren. Schritte wären:

  • weniger Arbeiten und Klausuren,
  • die Möglichkeit, die Schriftlichkeit durch andere Leistungsnachweise zu ersetzen,
  • die Abschlüsse zu individualisieren wie individuelle Profilbildung, Abschlüsse im eigenen Takt und in Modulen.

Unabdingbar sind zusätzliche Ressourcen für eine positive Diskriminierung der Gesamtschulen.

Je mehr wir auf besseren Voraussetzungen bestehen, dass alle eine breitere, individuellere und längere Bildung erhalten und die Abschlüsse individueller, gerechter und fördernder werden, je mehr wir als Gesamtschulen mit diesen Maßnahmen in Öffentlichkeit und Politik aufgewertet werden, umso eher wird die Realisierung der gemeinsamen Schule für alle gelingen.

Die gemeinsame Schule für alle ist als Idee nicht tot, sie wird auch nicht sterben, sondern Realität werden.

[1] Neues Deutschland, 21.11.18

[2] https://bildungspolitik.blog.rosalux.de/2019/01/16/alf-hammelrath-gute-schulen-fuer-alle/

[3] J. Lohmann, Die Chancengleichheit verlangt eine gemeinsame Oberstufe und eine tertiäre Bildung für alle, https://ggg-bund.de/index.php/beitraege/344-j-lohmann-2018-eine-gemeinsame-oberstufe-fuer-alle

2 Gedanken zu “Eine Todeserklärung verhindert nicht die gemeinsame Schule für alle. Von Joachim Lohmann”

  • Lieber Joachim,

    dass ich von Dir als „linker Bildungsexperte“ bezeichnet werde, könnte mich ja ehren, wenn diese Aussage nicht verbunden wäre mit der (soweit sie nicht auf fahrlässigen Mißverständnissen beruht) schon bösartigen Behauptung, ich setzte mich von der gemeinsamen Schule für alle ab, nur weil ich Deinen Überlegungen, die Du nun auf 12 Seite ausgebreitet hast, nicht folgen kann und will.
    Alte Kämpfe, ob gewonnen oder verloren, wieder aufzurufen, mag etwas für Veteranen sein; dazu zähle ich mich trotz entsprechenden Lebensalters nicht.

    Im Übrigen, und diesen Widerspruch müsstest Du dann schon auflösen, enthält schon Deine Zwischenüberschrift „Linke Bildungsexperten setzen sich ab von der gemeinsamen Schule für alle“ eine Contradictio in adiecto. Ob links oder nicht: das Ziel der gemeinsamen Schule für alle hat Zeit meines einschlägigen Lebens, und das ist nun deutlich mehr als ein halbes Jahrhundert, niemals zur Disposition gestanden. Allerdings fühle ich mich sachlichen Analysen und wissenschaftlichem Denken verpflichtet, und nicht Glaubenssätzen.

    Beste Grüße

    Alf Hammelrath

  • Lieber Joachim,
    ehrlich gesagt, ich verstehe Dich nicht. Auf der einen Seite unterstellst Du Klaus Klemm, dass er sich vom Ziel der einen Schule für alle abwendet, obwohl er explizit das Gegenteil sagt, weil er sie gegenwärtig als flächendeckende Schule nicht für durchsetzbar hält. Aha, denke ich, da rechnet ein immerhin als Staatssekretär tief in die Parteistrukturen eingebundener mit der halbherzigen Schulpolitik seiner Partei ab. Doch mitnichten! Ein paar Seiten weiter übertriffst Du Klaus Klemm sogar noch im Lob der schulpolitischen Fortschritte, die die SPD erreicht habe. Die Zweigliedrigkeit kann man ja durchaus als Fortschritt sehen, in einigen Staaten, etwa in Bremen, aber das wirfst du ja zuvor Alf Hammelrath und Klaus Klemm als Defaitismus vor. Doch Dein Lob sozialdemokratischer Schulpolitik schließt dann sogar noch so ein verkorkstes Modell wie die mindestens Fünfgliedrigkeit in NRW mit ein.
    Aber vielleicht ist diese Schizophrenie – ein großer ideologischer Auftritt, der nur durch bestenfalls homöopathische reale Bewegungen gedeckt ist, ja symptomatisch für eine „alte“ Sozialdemokratie, deren Verschwinden ich sehr bedauere – heute verzichtet man ja selbst auf den ideologischen Auftritt..
    In diesem Sinne wünsche ich Dir viel Erfolg dabei, Deine Partei wieder auf den rechten, den linken Weg zurück zu führen,
    herzlich,
    Karl-Heinz Heinemann

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