Auf unserem nächsten Treffen am 21. März wollen wir über ein Manifest „Nach PISA umsteuern“ beraten, um damit an die Öffentlichkeit und in die politische Debatte zu gehen. Kommentare und Veränderungswünsche dazu sind willkommen.

 

Nach PISA umsteuern!

Demokratische statt wettbewerbsorientierte Schule!

Bildung statt Kompetenzen!

 

Die letzte PISA-Runde hat wieder mal geschockt. Aber geschockt waren BildungspolitikerInnen nicht so sehr von der Tatsache, dass über ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler kaum lesen und schreiben können, die Grundvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich beruflich etablieren zu können,  nicht darüber, dass es Schulen für Arme und nicht so Arme gibt, dass der Schulerfolg vor allem vom sozialen Status der Eltern abhängt. Geschockt waren sie davon, dass die Schulleistungen deutscher Schülerinnen im internationalen Vergleich nur Mittelmaß seien. Wie stünde denn Deutschland im internationalen Wettbewerb da?

Die Schere zwischen GymnasiastInnen und anderen SchülerInnen ist größer geworden, der Abstand zwischen guten und schlechten Leistungen ist gewachsen. Und am unteren Rand des Systems hat sich rein gar nichts verändert. Und das, obwohl seit 20 Jahren ständig neue Maßnahmen beschlossen werden: Ausbau von Vorschuleinrichtungen und Ganztagsschulen, Individualisierung und Inklusion im Unterricht, Vera, Iglu, IQB, TIMSS, Chancenspiegel, nationalem Bildungsbericht und regionalen Monitorings. Die einzige Antwort, die Bildungsministerin Anja Karliczek darauf einfällt: Noch mehr von der Therapie, die schon bisher versagt hat – also mehr Tests, mehr Vergleichbarkeit, mehr Standardisierung und Kompetenzraster.

Sicher wurden auch sinnvolle Maßnahmen ergriffen – Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung und der Ganztagsschule. Aber der Erfolg dieser Maßnahmen ist bisher gering: Vielerorts führten sie geradezu zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit:  In den Stadtteilen, in denen die Eltern wohnen, die sich im politischen Raum artikulieren können, gibt es genug Kita-Plätze, in den sozialen Brennpunkten nicht, Ganztagsbetreuung ohne pädagogisch qualifiziertes Personal und ohne Konzept bewirkt keine bessere Bildungsteilhabe.

Die Orientierung an den PISA-Standards geht an zentralen Problemen unserer Gesellschaft und unseres Bildungswesens vorbei. Was PISA nicht erfasst:  Unsere Schulen haben ein Demokratiedefizit. Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen und Bildungsabschlüssen erleben sich als sozial und politisch ausgegrenzt. Sie beteiligen sich weniger an politischer Willensbildung, sie sind anfälliger für demokratiefeindliche Parolen und Organisationen.

Die soziale und politische Ausgrenzung ist nicht bloß ein Gefühl. Sie ist die Realität, die SchülerInnen erleben, wenn ihnen das ausgrenzende Schulsystem schon frühzeitig Chancen verbaut. Und wer glaubt, dass er in dieser Gesellschaft nichts zu sagen hat, der hat auch weniger Anlass zu sprechen, zu schreiben und sich Bildung anzueignen.

Andreas Schleicher, bei der OECD für PISA verantwortlich, stellte schon 2005 fest: „Deutschland kommt um die Strukturdebatte nicht herum. Erfolgreiche Bildungsnationen gehen mit der Unterschiedlichkeit der Schüler konstruktiver um. Das gegliederte deutsche Schulsystem lädt dazu ein, Schüler abzuschieben, anstatt sie zu fördern.“ Man muss also kein Linker sein um festzustellen: In Deutschland wurden bisher nicht die notwendigen Konsequenzen aus PISA gezogen.

Wir haben nach PISA den falschen Weg eingeschlagen. Wenn wir die Vertiefung der sozialen Spaltung in der Schule überwinden wollen, wenn wir, wie Comenius sagt „allen alles lehren“ wollen, müssen wir andere Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen ziehen.

  • Deshalb ist die vordringliche Aufgabe, das gegliederte Schulsystem durch eine Schule für alle zu ersetzen, das vielfältige Möglichkeiten für alle Schülerinnen und Schüler eröffnet.
  • In einem gegliederten Schulsystem wie in Deutschland sind weder Chancengleichheit noch Inklusion möglich.

Gymnasien können sich ihre SchülerInnen aussuchen und diejenigen „abschulen“, also der Schule verweisen, von denen sie sich überfordert fühlen. Die Folge: in den anderen, „niedrigeren“ Schulformen konzentrieren sich Kinder und Jugendliche, deren Lernchancen ohnehin schon beschnitten sind. Das Absurde: Dort konzentrieren sich auch die Lehrkräfte, die als Quereinsteigerinnen nicht oder nur unzureichend pädagogisch qualifiziert wurden.  In Grundschulen, etwa in Köln, sind über die Hälfte der Lehrkräfte QuereinsteigerInnen, in gymnasialen Oberstufen sind es nur 6 Prozent.

Erste Schritte zu einem einheitlichen, fördernden und gerechten Schulsystem sind:

  • Schulen mit besonderen pädagogischen Anforderungen aufgrund der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft müssen besonders gefördert werden. Sie brauchen die besten LehrerInnen, Doppeltbesetzungen in den Klassen, die besseren Schulbauten: Ungleiches ungleich behandeln.
  • Alle Schulformen müssen alle Abschlüsse anbieten, d.h.: Gymnasien werden auch von Schülerinnen besucht, die nach dem Hauptschulabschluss abgehen werden, dürfen also SchülerInnen, die sie aufgenommen haben, nicht mehr „abschulen“, andere Schulformen müssen einen ungehinderten Weg in die gymnasiale Oberstufe anbieten können. Keine Abschulungen mehr, Wege zum Abitur für alle.
  • Eltern und Schüler können ihre weiterführende Schule frei wählen. Solange die eine Schulform sich alle „ProblemschülerInnen“ vom Leibe halten können, die sich dann in den anderen Schulformen konzentrieren, wird soziale Ungleichheit in der Schule potenziert. Freie Schulwahl für Eltern und Schüler, aber keine freie Schülerwahl für die Schulen!
  • Schulen und Lehrkräfte brauchen Freiräume in der Gestaltung des Schullebens, des Unterrichts. Stattdessen bekommen sie immer mehr Standardisierungen aufgedrückt, müssen sich ständig neuen Vergleichen und Kontrollen stellen, und das Ganze wird dann noch als „Schulautonomie“ und „Individualisierung“ verkauft. Mehr Freiraum statt Standardisierung.
  • PISA und Co haben den Leistungsdruck auf die Schulen erhöht. Das Interesse am Lernen wird ebenso vernachlässigt wie die Herausbildung von Empathie, von Solidarität und Kritikfähigkeit, oder der von Leistungs- und Zensurendruck freie Austausch über die Fragen, die das Leben und die Zukunft der jungen Generation bestimmen.
    Nicht durch Noten- und Leistungsdruck werden Schülerinnen und Schüler gefördert. Junge Menschen wollen lernen, aber nicht unbedingt formal definierte „Kompetenzen“ sondern Fähigkeiten die ihnen helfen, sich die Welt von heute und morgen anzueignen. Also: Orientierung an Schlüsselproblemen statt an Kompetenzrastern!
  • Allen Schülerinnen und Schülern die notwendigen Fähigkeiten mitzugeben, um am beruflichen wie dem gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, das wäre schon mal was. Aber das wird nicht reichen. Neue Lösungen angesichts des Klimawandels, des Auseinanderdriftens von Gesellschaften, die Erosion westlicher Demokratien – all das stellt neue Anforderungen auch an Schule und Bildung.

Schulen und LehrerInnen brauche mehr Selbständigkeit, um das Potential ihrer Schülerinnen und ihr eigenes besser entfalten zu können.

Lehrerinnen brauchen mehr Fortbildung nicht in Management-Techniken, sondern darin zu verstehen, was für ihre SchülerInnen wichtig ist und wird.

 

Ein Gedanke zu “Entwurf: Nach PISA umsteuern”

  • (von Thoms Jaitner)
    iebe Kolleginnen und Kollegen,

    der Aufruf „Nach PISA umsteuern!“ hat mich doch überrascht, weil er ein zentrales Problem unserer Schulen ausklammert. Man könnte auch sagen, er geht von einer Schülerschaft aus, die es schon seit längerem nicht mehr gibt. Die neue Normalität an unseren Schulen besteht darin, dass wir es mit mehrsprachigen, multikulturellen Klassen zu tun haben. Die „traditionelle“ Heterogenität ist also um eine weitere wichtige Dimension erweitert worden. Dabei geht es nicht um ein Randproblem, denn zumindest in den großen Städten beträgt der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund über 50%. Anscheinend sind die Autoren des Aufrufs der Meinung, dass man diese Tatsache unter der sozialen Frage abhandeln kann. Leider ist das ein folgenschwerer Irrtum. Wenn man sich schon mit PISA befasst, dann sollte man immerhin zur Kenntnis nehmen, dass die PISA-Sonderstudie zu den Leistungen der Migrantinnen und Migranten von 2018 auf folgenden Zusammenhang aufmerksam macht: „In mehreren Ländern, die sich an der PISA-Studie beteiligen, ist der Migrationshintergrund ein größeres Hindernis für das Erreichen schulischer Leistungen als eine sozioökonomische Benachteiligung“ (S. 169). Deutschland gehört zu diesen Ländern. Die Schülerschaft mit Migrationshintergrund ist also doppelt benachteiligt: Durch ihre sozioökonomische Herkunft und (noch mehr) durch ihren Migrationshintergrund.

    Natürlich ist es sinnvoll, die Überwindung des gegliederten Schulsystems zu einem Schwerpunkt zu machen. Leider wird sich dadurch der schulische Erfolg der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht grundlegend ändern lassen, weil dann immer noch das Hindernis „Migrationshintergrund“ unbearbeitet bleibt. Der in Toronto lehrende Sprachwissenschaftler Jim Cummins hat schon 1986 untersucht, weshalb die erheblichen Anstrengungen des US-Bildungssystems zur Verbesserung der Schulerfolge von Schwarzen und Hispanics nicht von Erfolg gekrönt waren. Er wies darauf hin, dass die gesellschaftlichen Machtbeziehungen von Mehrheit und Minderheit so lange in der Schule reproduziert werden, wie nicht die Kultur und Sprache der Minderheitenkinder einen Platz im Regelsystem finden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das „Ausmaß, wie die Sprachen und Kulturen der Schülerschaft in die Schulprogramme einbezogen werden, die schulischen Leistungen wesentlich voraussagen lässt“. Man müsste sich also dringend mit Fragen wie dem mehrsprachigen Lernen unter Einbeziehung der Migrantensprachen, dem Deutschlernen in sprachlich heterogenen Klassen oder dem interkulturellen und religiösen Lernen beschäftigen, und zwar als integrativer Bestandteil des Regelsystems und nicht als additiver Förderunterricht.

    Mir ist es ehrlich gesagt völlig unklar, wie man dieses Thema einfach unter den Tisch fallen lassen kann. Es kommt ja auch in den anvisierten Tagungen und Treffen überhaupt nicht vor. Immerhin ist es in der schulischen Praxis eines der am meisten drängenden Probleme. Ich finde es auch politisch verhängnisvoll: In einer Zeit des sich ausbreitenden Rechtsradikalismus, der die Migrantinnen und Migranten zum Objekt von Ausgrenzung macht, müsste man doch diesen Menschen den Rücken stärken und ihr Selbstbewusstsein heben, damit sie sich erfolgreich wehren können. Das geht aber nur, indem man auch ihre Interessen und Themen offensiv aufgreift. Sie in dieser Lage einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen, finde ich unverantwortlich. Wie will man den Rechtsradikalismus zurückdrängen, ohne die Migrantinnen und Migranten zu Mitstreitern in dieser Auseinandersetzung zu machen?

    Es tut mir leid es sagen zu müssen: Es gibt in den modernen Gesellschaften viele unterschiedliche Formen Minderheiten auszugrenzen. Der vorliegende Aufruf ist eine davon.

    Viele Grüße

    Thomas Jaitner

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