… das ist für viele von uns nichts Neues. Neu ist aber, dass diese Erkenntnis sich nun im Zentralorgan seriöser konservativer Tagespresse, in der FAZ wiederfindet. Dort wird über das „Schulwunder von Wutöschingen“ berichtet, einer Schule im Schwarzwald, in der es keine Noten gibt, in der selbstorganisiertes und kooperativbes Lernen und Erfahren im Mittelpunkt steht. Wer die FAZ regelmäßig liest wird nicht glauben, dass das aus der Feder der für Bildungspolitik zutändiger Redakteurin stammt. Tut es auch nicht, es wurde von einer Wirtschaftsredakteurin, Lisa Becker, geschrieben.

Lernen der Zukunft

Das Schulwunder von Wutöschingen

In einer kleinen Gemeinde im Schwarzwald findet man die wahrscheinlich innovativste öffentliche Schule Deutschlands. Hier wirft ein Direktor mit seinem Kollegium die gängigen Vorstellungen von Unterricht über den Haufen.

 

Von LISA BECKER

Stefan Ruppaner ist ein Mann der kurzen Wege. Der Besuch steht für den nächsten Tag an; die Anfrage dazu war umgehend und mit zwei Sätzen akzeptiert worden. Nun ein Anruf: „Sind Sie heute Abend schon in Wutöschingen? Möchten Sie zu unserem Bläserorchesterkonzert kommen?“ Ein freundliches Willkommen in der Aula. Dann verlässt Ruppaner den Raum, kommt mit dem Orchester wieder hinein, nimmt seinen blauen E-Bass und spielt mit. Früher sei er Musiker im Hauptberuf gewesen und Lehrer im Nebenberuf, erzählt der Leiter der Alemannenschule nach dem Konzert. Heute ist es umgekehrt. Mit seiner Band „Popcorn“ tritt er weiterhin regelmäßig auf.

Nach dem Konzert steht man bei Glühwein und Kinderpunsch zusammen; die Stimmung ist entspannt. „Ich bin schon sehr zufrieden mit dieser Schule“, sagt eine Mutter. Ihre Kinder gingen richtig gerne dorthin; der Tochter seien die Sommerferien sogar zu lang. „Meine Tochter würde am liebsten in der Schule einziehen“, erzählt eine andere. Und was ist das Besondere? „Jedes Kind wird gesehen und motiviert.“

Anschließend, bei Bier,  Wein  und Wasser im Landgasthof „Ochsen“, erzählt Ruppaner vom Umbau der Schule, deren Leitung er vor etwa zehn Jahren übernommen hat. „Eine sterbende Hauptschule“ sei sie gewesen, der die Schließung drohte. Mit im „Ochsen“ dabei: eine Abordnung von der deutschen Schule in Kairo, zwei Lehrerinnen und ein Lehrer. Man hat von dem außergewöhnlichen Konzept der Gemeinschaftsschule erfahren und will sich das genauer anschauen. Ständig empfängt man in Wutöschingen Besuch. „Montag ist Besuchstag“, sagt Ruppaner. Vor allem Schulen und Gemeinden informieren sich über das mit dem angesehenen Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Konzept.

„Aller Übel Anfang ist der Unterricht“

Wie radikal Ruppaner und seine Kollegen Schule verändert haben, muss man freilich erst einmal verkraften. Das klingt nach Revolution, einer friedlichen natürlich, auch wenn Ruppaner nicht an markigen Worten spart. Für das, was er in der 7000-Einwohner- Gemeinde angestellt hat, in einer staatlichen Schule zumal, die eher im Brennpunkt liegt, braucht man sehr viel Willen und Durchhaltevermögen. Denn die Vorbehalte waren riesig und sind noch nicht ganz verschwunden. Geholfen haben auch eine gute Vernetzung – Ruppaner ist seit 28 Jahren im Gemeinderat – und Ehrgeiz. Der energiegeladene Mittsechziger mit den wachen, freundlichen Augen verhehlt nicht, wie es ihm gefällt, dass seine Schule inzwischen in der obersten Liga mitspielt, von Kultusministerinnen und anderen Politikern als Vorzeigeschule empfohlen.

„Aller Übel Anfang ist der Unterricht“, lautet einer dieser markigen Sätze Ruppaners, die man erst mal verdauen muss; vielen Lehrkräften dürfte er sauer aufstoßen. Oder: Bevor er in eineinhalb Jahren in Rente gehe, müsse er „noch viele Strukturen zerschlagen“. Ruppaner will unbedingt verhindern, dass die Schule dann zu dem Unterricht zurückkehrt, der an deutschen Schulen dominierend ist.

Im Visier hat er zum Beispiel die Unterteilung in Fächer, die es auch an der Alemannenschule noch gibt. Die würde Ruppaner gerne auflösen. Vieles andere haben er und seine Kollegen schon zu Grabe getragen. Es gibt keine Klassen und keine Klassenzimmer mehr. Es gibt keine 45-Minuten-Schulstunden. Es werden keine Klassenarbeiten für alle zu festen Zeiten geschrieben.

„Lernpartner“ statt Schüler

Gehörig verändert hat sich die Tätigkeit der Lehrkräfte, die hier meistens „Lernbegleiter“ sind. Wenn sie an die Schule kommen, müssen sie vieles lernen, was sie in der Lehramtsausbildung nicht gelernt haben. Es geht wenig um Stoffvermittlung und viel darum, sich für die Kinder und Jugendlichen zu interessieren, sie zu beraten und zu motivieren. Nicht allen, auch das wird klar, gefällt diese Tätigkeitsbeschreibung. Streng genommen gibt es auch keine Schüler mehr, sondern „Lernpartner“. Ein solcher, Finn aus der siebten Jahrgangsstufe, steht an einem Stehtisch auf dem „Marktplatz“. Dort darf laut gesprochen werden, anders als in den „Lernateliers“, wo jedes Kind seinen festen Platz in einer jahrgangsgemischten Gruppe hat. Finn schaltet sein  iPad  an, das er wie alle anderen ständig mit sich trägt.

Seine Lernbegleiterin hat ihm zu Beginn des Schuljahres die Fächer freigeschaltet, die er in der siebten Jahrgangsstufe lernt. „Ich will heute Deutsch lernen“, sagt er. Entschieden hat er das selbst. „Später ist noch Mathe-Input.“ Input sei ein bisschen wie klassischer Unterricht, sagt Finn. „Die Lernbegleiter erklären Stoff.“ Die Input-Stunden – Finn hat jeweils eine in der Woche in Mathe, Deutsch und Englisch – haben einen festen Platz in seinem Lernplan.

Insgesamt ist dort aber wenig festgelegt. Finn entscheidet weitgehend frei, was er wann lernt. Zum Ende des Schuljahrs muss er allerdings alle Themen auf einem gewissen Mindestniveau bearbeitet haben.

Selbständigkeit und Verantwortung übernehmen für sich selbst und andere: Das möchten Ruppaner und seine Mitstreiter in den Schülern fördern. Am wichtigsten ist ihm aber: „Sie sollen gerne in die Schule kommen und ein gutes Leben haben.“ Man nimmt ihm das ab. Als er die Leitung der Schule übernahm, habe er selbst nicht geglaubt, dass fast alle Schüler weitgehend selbstbestimmt lernen können, schon gar nicht die eigenen. In einer Doku erfuhr er von einer Schule, in der freies Lernen praktiziert wurde. Das faszinierte ihn. Er machte sich mit Kollegen auf den Weg, sie begannen mit der 5. Klasse. Nach drei, vier Jahren sei schon viel verändert gewesen.

Selbst organisiertes Lernen

„Man muss den Kindern die Gelegenheit geben, etwas zu lernen“, ist ein weiterer Satz von Ruppaner, der sitzt. Im üblichen lehrerzentrierten Unterricht sehe es von außen so aus, als lernten alle gut, das sei aber bei Weitem nicht so. „Wenn einige es nicht verstanden haben, geht die ganze Klasse trotzdem weiter. Bei uns wird hingegen nachgelernt.“ Wer auf die Eigenständigkeit der Schüler setze, müsse freilich aushalten, dass sie auch mal nichts lernten.

„Wir hatten eine Chill-out-Lounge eingerichtet für die, die lieber chillen als lernen wollten, auch damit sie die anderen nicht störten“, erzählt Ruppaner. „Zu Beginn war sie voll, nach zwei Wochen aber leer.“

Pauline, ebenfalls siebte Jahrgangsstufe, war schon um 7.25 Uhr in der Schule, Orchesterprobe. Dann hat sie einen Deutsch-Input besucht. „Ich halte mich an den Input- Plan“, sagt sie. Klar lerne sie freiwillig. „Meistens lerne ich mit meiner Schwester und einer Freundin auf dem Marktplatz“, erzählt sie. „Wir erklären uns den Stoff gegenseitig.“ Beim Gang durch die luftig-hellen Schulgebäude sieht man einige Schüler alleine auf Stühlen, Sofas, Sesseln oder Sitzkissen sitzen. Meistens trifft man sie allerdings in Grüppchen an. Der Mensch lernt offensichtlich gerne in Gesellschaft.

Einmal in der Woche geht Pauline, wie ihre Mitschüler, zum Coaching mit ihrer Lernbegleiterin. Es dauert 15 bis 20 Minuten. Sie schauen gemeinsam, was Pauline gelernt hat und wie sie weitermachen könnte. „Und welche Gelingensnachweise ich schreiben könnte“, erzählt Pauline. Wann sie diese Tests absolviert, entscheidet sie selbst. „Man korrigiert auch selbst“, erklärt sie. Um zu bestehen, müsse man eine hohe Punktzahl erreichen. Zweimal kann ein Gelingensnachweis wiederholt werden.

„Wir decken den Tisch. Essen müssen die Schüler selbst“

Ruppaner erklärt das Konzept der Schule gerne am Beispiel einer Mahlzeit: „Wir decken den Tisch. Essen müssen die Schüler selbst.“ Wichtig sind auch die Tischmanieren – es gibt viele Regeln an der Alemannenschule, man könnte auch sagen: Anreize. Wer sich anständig verhält, pünktlich ist, Termine einhält, Verantwortung für sich und die Gemeinschaft übernimmt, bekommt mehr Rechte, darf zum Beispiel auf dem Marktplatz lernen und nicht nur an seinem festen Platz im Lernatelier. Man kann aufsteigen, vom Neustarter, zum Starter, zum Durchstarter, zum Lernprofi. Den erreichten Status möchte man halten oder verbessern. Ganz wichtig ist: Man steigt nicht wegen besonders guter Schulleistungen auf, sondern wegen sozialer Kompetenzen, auf Neudeutsch „social skills“.

Das SoL, selbst organisierte Lernen, ist jedoch nur einer der beiden Flügel der „Schmetterlingspädagogik“, die an der Alemannenschule praktiziert wird. Der andere Flügel ist das LdE: Lernen durch Erleben. Dieses findet nachmittags statt und in Gruppen. Dafür meldet man sich über sein Tablet an. Finn hat schon „Glück“ gewählt und „Ernährung und Verdauung“. Ganz besonders hat ihm gefallen, als sie im Wald nach Tierspuren gesucht haben.

Ohne die starke Digitalisierung der Schule wäre dieses Konzept nicht möglich, sagt Ruppaner. Wenn das WLAN mal nicht funktioniere, was dreimal im Jahr der Fall sei, dann sei das „wirklich schlimm“. Jedes Kind hat für zwölf Euro im Monat einen Tabletcomputer,

der alle drei Jahre ausgetauscht wird. Wer sich das nicht leisten kann, wird vom Förderverein unterstützt. Schulbücher gibt es an der Alemannenschule nicht mehr, dafür umfangreiche Lernmaterialien auf den iPads. Das selbst organisierte Lernen funktioniere nur, wenn diese hervorragend konzipiert seien. Erstellt werden sie von der gemeinnützigen Genossenschaft Materialnetzwerk eG, in der sich etwa 60 Schulen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz austauschen. Ihr Sitz: Wutöschingen. Der Vorstandsvorsitzende: Stefan Ruppaner.

Datenschutz? Kein Problem

Erstellt werden Open-Source-Materialien, sie können frei bearbeitet und weiterverbreitet werden. Von 200 Euro an im Jahr kann jede beliebige Schule eine Lizenz erwerben und die Materialien an die eigenen Bedürfnisse anpassen. Die Alemannenschule habe früher 50 000 bis 60 000 Euro im Jahr für Schulbücher ausgegeben, sagt Ruppaner. Jetzt wende man vielleicht 500 Euro im Jahr für Lernmaterial auf.

Datenschutz sei an der Schule kein Problem, sagt Ruppaner. Man arbeitet in einer Open- Source-Umgebung mit dem Namen DiLer, die an der Schule mitentwickelt wurde und die auch andere Schulen kostenlos nutzen können. „Sie funktioniert seit zehn Jahren fehlerfrei.“ Wer ansonsten Schwierigkeiten mit der Technik hat, wendet sich an einen iPad-Assistenten; das sind Schüler, die dafür ausgebildet wurden. Die nächste Stufe ist der Lernbegleiter im Medialab der Schule. Wenn das Problem dort nicht gelöst werden kann, kümmert sich die Gemeinde.

Nach zwei Tagen Hospitanz hat den Lehrer aus Kairo besonders beeindruckt, wie viel Zeit die Lehrkräfte für ihre Schüler haben. „Sie können wirklich eine Beziehung aufbauen.“ Auf einem Rundgang durch die modern und gemütlich eingerichteten Schulgebäude mit unterschiedlichen Räumen, Nischen und Sitzgelegenheiten grüßt Ruppaner ständig Schüler, kennt alle mit Namen. Er klatscht ab, stellt eine Frage; die Kinder freuen sich offensichtlich, ihn zu sehen.

„Wir machen es nicht wegen der Schulleistungen“,

Einige der Besucherschulen sind dabei, das pädagogische Konzept der Schule zu übernehmen. Andere hätten Bedenken, weil sie in alten Gebäuden untergebracht seien, erzählt Ruppaner. Man habe aber auch ganz klein angefangen, Tische auseinandergestellt und jedem Schüler einen eigenen Arbeitsplatz eingerichtet, mit einer Holzkiste auf jedem Tisch für die Ordner. 20 Euro für jedes Kind habe das gekostet und ein paar Jahre funktioniert. Dann kam der Erfolg, Anmeldungen und Schülerzahlen stiegen; heute sind es rund 900. Man bekam den schönen Neubau.

Und wie hält man es mit Noten? Verpflichtend sind sie von der achten Klasse an, vorher kann man die Testergebnisse in Noten umrechnen lassen. Ruppaner schaltet sein iPad ein. „Kennen Sie Vera?“ Vera steht für „VERgleichsArbeiten“, die in Mathe, Deutsch und Fremdsprachen in allen Bundesländern durchgeführt werden. Der Schulleiter zeigt Schaubilder: Die Leistungen der Alemannenschüler liegen deutlich über dem Durchschnitt. Im vergangenen Schuljahr hat man den ersten Abiturjahrgang entlassen, mit der Durchschnittsnote 1,7. Der Durchschnitt in Baden-Württemberg betrug 2,2. „Wir machen es nicht wegen der Schulleistungen“, sagt hingegen Ruppaner. Und auch: „Gute Leistungen sind wichtig, damit wir machen können, was wir machen wollen.“ Die guten Noten bringen öffentliche Anerkennung, sie halten ihm und seinem Team den Rücken frei – damit sie Schule weiter über den Haufen werfen können.

 

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