Die alljährliche Berichterstattung der OECD[1] über die Bildung in allen Mitgliedsstaaten und weiteren Partnern wie den übrigen G 20 Ländern, OECD Beitrittsländern wie Indonesien, Indien und Saudi- Arabien bietet die Möglichkeit, den Stand der Bildung von der Kita über Grund- und weiterführende Schulen, die Hochschulen bis hin zur Weiterbildung überblicksartig für jedes Land zu erfassen und mit den übrigen Ländern oder dem Durchschnitt zu vergleichen.

Im Verlauf er letzten Jahre ist grundsätzlich eine zunehmende Bildungsbeteiligung in allen Ländern festzustellen – dieser Trend setzt sich auch 2019 fort. Insbesondere die frühkindliche Bildung und der tertiäre Bereich (Hochschulen) erfassen immer mehr Menschen. Das gilt auch für Deutschland. Dennoch klingen die alljährlichen Erfolgsmeldungen diesmal etwas bescheidener. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek bescheinigt bei der Vorstellung des Berichts Deutschland ein »gutes Bildungssystem«, das international »ganz gut bestehen« könne. »Wir sind jetzt im Mittelfeld«, so ihr Fazit.

Angesichts wieder massiv steigender Schüler*innen- und Studierendenzahlen, steigender Nachfrage nach Krippen- und Kitaplätzen, einem Investitionsstau in allen öffentlichen Bildungseinrichtungen und einem steigenden Bedarf an pädagogischem Personal an Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen für das vor uns liegende Jahrzehnt lässt die OECD-Studie einen Blick auf die Ausgangslage für die vor uns liegenden Probleme zu.

Über dieses quantitative Versorgungsproblem hinaus muss das Augenmerk auch auf die gravierende soziale Schieflage in unserem Bildungssystem gerichtet werden. Deutschland reproduziert und verschärft nach wie vor in seinem Bildungswesen die soziale Spaltung in der Gesellschaft. Gerade angesichts steigender Bildungsabschlüsse für viele wird die Lage für diejenigen, die im Bildungssystem nicht erfolgreich sind, immer prekärer. Und diese Kinder und Jugendlichen kommen in Deutschland meist aus armen und sozial benachteiligten Familien.

»In der gesamten OECD gilt ein Abschluss im Sekundarbereich II allgemein als Mindestvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Erwachsene aller Altersgruppen, die diesen Bildungsstand nicht erreicht haben, sind auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Im Durchschnitt der OECD-Länder beträgt die Beschäftigungsquote von25- bis 64-jährigen Absolventen des Tertiärbereichs 85%, von Absolventen des Sekundarbereichs II bzw. des postsekundaren, nicht tertiären Bereichs 76% und von denjenigen ohne Abschluss im Sekundarbereich II 59%.« /79/

13% aller jungen Erwachsenen zwischen 25 und 34 Jahren haben in Deutschland keinen Sekundarstufen II-Abschluss. Im EU-Durchschnitt liegt dieser Wert bei 14% und im OECD-Durchschnitt bei 15%, also nur unerheblich schlechter. 2008 lag dieser Wert in Deutschland bei 16%. Das selbstgesetzte Ziel, diesen Wert bis 2015 zu halbieren, ist weit verfehlt worden.

»Diese Quote gilt es weiter zu senken, insbesondere dadurch, dass allen Jugendlichen, gerade auch den leistungsschwächeren, eine Chance auf einen Abschluss in der beruflichen Bildung eröffnet wird. Aus diesem Grund haben Bund und Länder sich auf dem Qualifizierungsgipfel im Oktober 2008 darauf verständigt, bis 2015 den Anteil der Schul- und Ausbildungsabbrecher zu halbieren und hierfür verschiedene Maßnahmen vereinbart.« (Kultusministerkonferenz zu Bildung auf einen Blick 2009)

Zwar liegt der Anteil der 18- bis 24-Jährigen in Deutschland, die weder in Ausbildung noch in Beschäftigung sind (NEET: Neither Employed nor in Education or Training) unter 10% (OECD Durchschnitt: 14,3%), aber von denjenigen, die keinen SEK II-Abschluss haben, gehören mehr als 40% zu dieser Gruppe. Damit liegt Deutschland nicht besser als der OECD-Durchschnitt.

Die OECD verweist darauf, dass die Größe der NEET-Gruppe unter den jungen Menschen in Abhängigkeit von der Wirtschaftslage steigt oder fällt. Heute – nach einer zehnjährigen Aufschwungsperiode – ist der Anteil OECD-weit erst wieder auf den Stand von vor der Krise 2008 gesunken. Das lässt nichts Gutes für die kommenden Jahre erwarten.

»Als die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 viele Länder traf, war der Anteil junger Erwachsener, die weder in Ausbildung noch beschäftigt waren, mit auf dem niedrigsten Stand, der im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erreicht wurde. 2008 waren im Durchschnitt aller OECD-Länder 15,3% der 20- bis 24-Jährigen NEETs, in den Jahren nach Ausbruch der Krise erhöhte sich ihr Anteil deutlich und erreichte in vielen Ländern 2010/2011 den Höchststand. Im Durchschnitt der OECD-Länder ist der Anteil der 20- bis 24-Jährigen, die sich weder in Ausbildung befinden noch beschäftigt sind, zwischen 2010 und 2018 um rund 4 Prozentpunkte gesunken: von 19,0 % auf 15,3%, also auf ein ähnliches Niveau wie 10 Jahre zuvor.« /69/

Ein Teil derjenigen, die die Sekundarstufe II erfolgreich absolvieren, macht eine berufliche Ausbildung, der andere Teil nimmt ein Studium auf. Traditionell spielt die berufliche Bildung im dualen System (schulisch und betrieblich) in Deutschland eine zentrale Rolle. Damit wird häufig begründet, dass die Studierendenquote und die Zahl der Studienabschlüsse in Deutschland trotz starker Steigerungsraten weit hinter dem Durchschnitt der OECD zurückbleiben. Nur wenige Länder haben weniger Studienabschlüsse unter den bis zu 35-Jährigen als Deutschland und Deutschland holt auch nicht auf.

Von Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung kann in Deutschland nicht die Rede sein. Jugendliche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien machen in der Regel eine Ausbildung, wenn sie nicht ganz ohne Abschluss bleiben, Jugendliche aus Akademikerfamilien bleiben an der Universität weitgehend unter sich. Hinzu kommt, dass selbst bei dem hochgelobten dualen System in Deutschland die Gefahren von Arbeitsplatzverlust, schnell entwerteter Qualifikationen und deutlich geringerer Einkommen gegenüber Hochschulabsolvent*innen nachweisbar sind.

»Berufliche Bildungsgänge werden jedoch in einigen Ländern als weniger attraktiv angesehen als akademische Bildungsgänge, und einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass eine berufliche Ausbildung das Risiko einer Erwerbslosigkeit im späteren Verlauf des Erwerbslebens erhöht.« /174/

Obwohl die Zahl der Studienabschlüsse und der Studierenden in Deutschland weit hinter der in den meisten OECD-Staaten zurückbleibt, hat es in den letzten Jahren eine große Expansion der Studierendenzahlen an den deutschen Hochschulen gegeben. Ca. 30% eines Jahrgangs nimmt heute in Deutschland ein Studium auf. OECD-weit waren Frauen an der Expansion des Tertiärbereichs in den letzten Jahren stärker beteiligt. Auch in Deutschland studieren inzwischen mehr Frauen als Männer. Im OECD-Durchschnitt liegt die Quote der Frauen, die über einen Abschluss im tertiären Bereich verfügen, bei 51% (gegenüber 2008: 40%). Bei den Männern sind das dagegen nur 38% (gegenüber 2008: 31%). Diese Unterschiede werden in den nächsten Jahren weiter zunehmen, da die Anzahl der Studienanfänger *innen fast überall expandiert.

Im Gegensatz dazu sind Frauen in Deutschland wie im OECD-Durchschnitt in den MINT-Fächern deutlich unterrepräsentiert. Das gilt ebenso für die Dozententätigkeit an den Hochschulen und die Häufigkeit von Promotionen. Die Gehaltsdiskriminierungen für Frauen im Anschluss an die Ausbildung bleiben in Deutschland höher als im Durchschnitt der OECD. Die soziale Schieflage an den Universitäten zeigt sich auch in den Abbrecherquoten:

»Untersuchungen haben gezeigt, dass sich ein benachteiligter sozioökonomischer Hintergrund stark auf die Erfolgsquote im Tertiärbereich auswirkt. … Selbst bei hoch qualifizierten Bildungsteilnehmern ist die Gefahr eines Abbruchs im Falle eines sozioökonomisch benachteiligten Hintergrunds aufgrund finanzieller Einschränkungen, familiärer Probleme oder Gruppenzwang tendenziell größer …  Aber in fast allen Ländern mit verfügbaren Daten ist die Erfolgsquote innerhalb der regulären Ausbildungsdauer plus 3 Jahre bei den Bildungsteilnehmern am höchsten, bei denen mindestens ein Elternteil einen Abschluss im Tertiärbereich hat, und bei den Bildungsteilnehmern am niedrigsten, deren Eltern die Ausbildung im Sekundarbereich II nicht abgeschlossen haben.« /254/

Mit der Expansion der Studierendenzahlen (trotz Zugangsbeschränkungen) an den Hochschulen in den letzten Jahren hat die Ausstattung – vor allem mit Personal – nicht schrittgehalten. Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, in denen die Pro-Kopf-Ausgaben pro Studierenden rückgängig waren, was an den Universitäten durch überfüllte Hörsäle, Massenabfertigungen und einem steigenden Dozenten -Studierenden Verhältnis zum Ausdruck kommt.

»Im Ergebnis verzeichneten die OECD-Länder in diesem Zeitraum (2010-2016 KB.) im Durchschnitt eine Zunahme der Ausgaben pro Bildungsteilnehmer um 8%. Es gibt jedoch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Von den OECD- und Partnerländern mit verfügbaren Daten sanken in Australien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, Litauen, Mexiko, Portugal und Spanien die Ausgaben pro Bildungsteilnehmer für Bildungseinrichtungen im Tertiärbereich. In den meisten dieser Länder ist der Rückgang größtenteils auf den schnellen Anstieg der Zahl der Bildungsteilnehmer im Tertiärbereich zurückzuführen.« /314/

Dass es Deutschland nicht gelingt, die steigende Bildungsbeteiligung so zu finanzieren, dass die Qualität zumindest erhalten bleibt, liegt an einer im internationalen Vergleich zu geringen Bildungsfinanzierung. Dieses Problem besteht schon seit vielen Jahren. Deutschland hinkt bei den Bildungsausgaben sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich den übrigen OECD Ländern hinterher.

Beim sogenannten Bildungsgipfel 2008 hatte die Bundesregierung sich zum Ziel gesetzt, bis 2015 den Anteil der Bildungsausgaben (ohne Forschung und Entwicklung) auf 7% des BIP zu erhöhen. Heute erreicht man gerade so 4% und liegt weiter am unteren Ende der Skala. Auch die öffentlichen Ausgaben liegen weit hinter dem Durchschnitt zurück. Untersuchungen der GEW kommen zu dem Schluss, dass 72 Mrd. Euro pro Jahr zusätzlich für Bildung zur Verfügung stünden, wenn Deutschland wie Norwegen 6,5% seines BIP für Bildung ausgeben würde. Auch bei den Investitionen im Bildungsbereich ist Deutschland nicht gut aufgestellt: 8% der Bildungsausgaben werden für Investitionen genutzt. Das entspricht dem OECD-Mittel, ist aber angesichts der insgesamt geringen Bildungsausgaben ein weiteres Schwächesignal.

Um die maroden Gebäude an Schulen und Universitäten instand zu setzen und zu erhalten, die Expansion der Bildungsbereiche durch steigende Schüler*innen -und Studierendenzahlen, aber auch den Ansturm auf frühkindliche Bildungseinrichtungen mit einer entsprechenden Ausweitung der räumlichen und baulichen Kapazitäten zu erreichen, müssten ab sofort und auf längere Zeit jährlich viele Milliarden Euro zusätzlich investiert werden. Noch mehr muss für die Ausbildung und Einstellung von pädagogischem Personal ausgegeben werden, um den steigenden Zahlen von Bildungsteilnehmer*innen gerecht werden zu können.

Von zusätzlichen Anstrengungen, die dringend nötig sind, um die massive soziale Schieflage in allen Bildungsbereichen zu bekämpfen und gute Bildung für alle unabhängig von ihrer sozialen Lage zu garantieren, sind wir in Deutschland 2019 meilenweit entfernt.

Anmerkung

[1] OECD: Bildung auf einen Blick 2019; https://www.oecd-ilibrary.org/education/bildung-auf-einen-blick-2019_ae29148c-de; dort kann auch eine pdf-Datei des Berichts heruntergeladen werden. Die Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, aus diesem Bericht.

 

Dieser Beitrag erschien zunächst auf sozialismus.de. 

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