Schule hat Corona

Diskussionsveranstaltung am 16.6.2020. Ein Bericht

Hier ein Videomitschnitt

Am 16.6.2020 veranstaltete der Gesprächskreis Bildungspolitik eine Online-Diskussion unter dem Titel „Schule hat Corona“. Mit dabei waren Martina Seifert, Schulleiterin einer Sekundarschule (bald Gesamtschule) in Duisburg-Rheinhausen, Christian Möwes, didaktischer Leiter und Sonderpädagoge an der Primus Schule in Münster, Steffen Kludt, Referent im brandenburgischen Schulministerium und Thomas Gesterkamp, der als Bildungsjournalist im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Publikation „Schule in Zeiten der Pandemie – Zwischen Homeschooling und Re-Schooling“ verfasst hat. Moderiert wurde die Diskussion von Karl-Heinz Heinemann. Für seine Publikation hat Gesterkamp nicht nur Best-Practice-Beispiele wie in Münster und Duisburg in den Blick genommen, sondern auch die Belastung in den Familien untersucht. Hier sei ein Rückfall in starre Geschlechterrollen zu beobachten. Einen Großteil der Mehrarbeit leisten immer noch und vermehrt Frauen. Durch die Krise sei zwar die soziale Spaltung noch weiter verschärft worden, aber auch Mittelschichtsfamilien litten unter der Doppelbelastung aus Homeoffice und Homeschooling. Neben der technischen Ausstattung zuhause spiele für gelingendes Homeschooling auch die von Bourdieu als kulturelles Kapital bezeichnete Bildung der Eltern eine Rolle. Gerade junge Geflüchtete hätten Schwierigkeiten, ihre Sprachkenntnisse während der Krise zu verbessern, wenn der Schulbesuch wegfällt.

 

Am Tag vor der Diskussion begann zumindest in Grundschulen in NRW wieder offiziell der „Regelbetrieb“. Christian Möwes berichtet von ersten Erfahrungen aus Münster. An der Primus-Schule gab es jedoch nie einen klassischem Regelbetrieb: Hier werden Schülerinnen und Schüler in jahrgangsgemischten Klassen unterrichtet, die Schule deckt alle Stufen von 1-10 ab. Räumlich sei die Schule daher natürlich keine typische Grundschule, so Möwes. Zwar sei man wieder vom Unterricht in Kleingruppen zum Klassenverband zurückgekehrt, aber das sei aufgrund von Personalmangel zurzeit nur gekürzt möglich. Wichtig sei vor allem, alle wieder regelmäßig zu sehen. An der Primus-Schule sind viele Kinder, die aus schwierigen Verhältnissen kommen – genau wie in Duisburg, wo Martina Seifert die Sekundarschule Rheinhausen leitet. Das Hygienekonzept wird strikt befolgt, und Seifert hat das Glück, ein recht junges Kollegium und wenige Ausfälle zu haben. Schulen wie ihre, die durch die Lage in sozialen Brennpunkten ohnehin schon immer viel improvisieren mussten, konnten diese Flexibilität in der Corona-Krise nutzen. Das berichtet auch Möwes: Dass an der Primusschule bis zur neunten Klasse keine Noten vergeben werden, war in der Corona-Krise ein wichtiges Mittel, um Eltern und Schüler*innen den Druck zu nehmen. Auch die Beziehungsarbeit mit den Familien musste nicht neu aufgebaut werden – sie ist seit Jahren eine Selbstverständlichkeit in Münster wie in Duisburg. Gerade bei schwierigen familiären Verhältnissen sei es wichtig, immer ungefähr zu wissen, was bei den Kindern gerade zuhause los sei. Für die Bewältigung der Krise war dieser langjährig praktizierte Ansatz eine wichtige Bedingung. Karl-Heinz Heinemann betont, wie viel Lehrerinnen und Lehrer mit Hausbesuchen, regelmäßigen Anrufen, Zoom-Konferenzen und Kreativaufgaben in den letzten Monaten geleistet hätten. Dies müsse man dem Klischee, die hätten ja jetzt alle nur bezahlte Ferien gehabt, entgegensetzen.

 

Nach dem Blick auf NRW berichtet Steffen Kludt aus Brandenburg. Hier habe man sich eher vorsichtig an die Öffnungen herangetastet. Er plädiert für eine Mischform aus Präsenz- und Distanzunterricht. Letzterer sei aber gerade für die Motivation der Kinder wenig hilfreich. Auch er beklagt die Personalsituation, vielfach fehlen Lehrkräfte, weil sie zur Risikogruppe gehören, oder es sind aufgrund der vielen Seiteneinsteiger*innen schlicht nicht genug qualifizierte Lehrkräfte da. Auch an Martina Seiferts Schule arbeiten 50% Seiteneinsteiger*innen. Dies sei eine Herausforderung, aber durch intensiven Kontakt zu ihrem Kollegium sei es gelungen, auch während der Corona-Krise gut koordiniert im Team zu arbeiten. Direkt von Woche eins an gab es in Duisburg zwei Mal die Woche eine digitale Team-Besprechung. Auch die Lehrerinnen und Lehrer mussten die Krise erstmal verarbeiten, so Seifert.

Spannend seien die Erfahrungen, die man mit der Digitalisierung gemacht habe. Seifert, eher Digitalisierungsskeptikerin, berichtet von Schülern, die zuhause, wo sie ihre Zeit frei einteilen können, bessere Lernergebnisse erzielen als in der Schule. Allerdings decke Digitalunterricht eben nur die kognitive Ebene ab, die emotionalen Lernanforderungen fallen unter den Tisch. Auch dem starken Austauschbedürfnis der Kinder könne man digital nur schwer gerecht werden. Dem stimmt Möwes zu. Positiv sei jedoch, wie schnell die Entwicklung notgedrungen gelaufen sei. Über einen bewussten Schulentwicklungsprozess, da ist er sich sicher, hätte es Jahre gebraucht, um neue digitale Werkzeuge zu nutzen. Dennoch sieht er die Digitalisierung nur als eine von vielen Zugangsmöglichkeiten zum Lernen. Wichtig ist ihm, dass die Schule auch ein Ort sein muss, an dem soziale Ungerechtigkeit aufgefangen werden kann. Dies gelinge im echten Schulleben einfach besser. Die Krise habe gezeigt, wie wichtig die Schule als Sozialraum sei. Das sieht auch Seifert so, für die Schule als Quartierschule gedacht werden sollte – weg von starren Jahrgängen und Fächern, weg von Noten und Prüfungen. Die Primusschule sieht sie hier als Vorbild.

 

Steffen Kludt berichtet ebenfalls von Ansätzen aus Brandenburg, Schule jenseits von Leistung und Selektion neu zu denken. So gebe es dieses Jahr erstmalig attraktive Ferienangebote, im Prinzip also pädagogische Freizeitbetreuung. Auch das Konzept der individuellen Lernbegleiter*innen, die zum Beispiel Lehramtsstudierende sein könnten, hält er für zukunftsfähig. Thomas Gesterkamp weist darauf hin, dass Schulen wie die Primusschule sich einem erweiterten Inklusionsbegriff verschrieben hätten. Ihn stört, dass gerade in der Krise Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf allein gelassen wurden, die Schulen blieben geschlossen. Dabei seien gerade sie auf die Angebote im Sozialraum Schule angewiesen. Karl-Heinz Heinemann bilanziert, dass die Corona-Krise gezeigt habe, dass ein anderes Lernverständnis nötig sei. Der Aufbau von persönlichen Beziehungen zwischen Lehrkraft und Schüler*innen sei elementar.

Anschließend wurde die Diskussion für alle Interessierten geöffnet. Hartmut Ring, pensionierter Lehrer auf Hamburg, kritisiert den für ihn fatalen „Digitalisierungshype“. Statt Online-Konferenzen abzuhalten sollten Lehrerinnen und Lehrer lieber Lernpäckchen an ihre Schüler*innen schicken – ganz analog, per Post. Karl-Heinz Heinemann weist darauf hin, dass die Krise die Digitalisierungsdebatte ja eigentlich etwas versachlicht habe. Es sei möglich, stärker den instrumentellen Nutzen digitaler Endgeräte zu diskutieren, ohne gleich in eine Polarisierung reinzukommen. Marc Mulia, in Bochum in der Lehrer*innenbildung tätig, stimmt ihm zu. Wenn die Alternative Schulunterricht wäre, sei der natürlich besser, doch in der jetzigen Situation seien digitale Mittel eben besser als gar kein Unterricht. Da gäbe es viele tolle Angebote.

 

Gunhild Böth verweist auf die vielen Gruppen, die aktuell beschäftigungslos, aber hochqualifiziert seien: Studierende, aber auch Menschen aus Kunst und Kultur. Diese gelte es für die Arbeit in Kleingruppen zu gewinnen und auch zu bezahlen. Natürlich müsse der Schulträger dafür Räume bereitstellen, aber zurzeit stehen ja ohnehin viele Veranstaltungsräume leer. Dann sehe der Unterricht vielleicht nicht so aus, wie sich ihn Konservative vorstellen, aber von dem Bild, Schule funktioniere so, dass eine Person vorne an der Tafel steht und alle anderen passiv auf ihrem Stuhl sitzen, müsse man sich verabschieden. Und woher soll das Geld kommen? Das müsse der Schulträger eben ereitstellen: Es herrsche ein solcher Ausnahmezustand, dass man durchaus Geld in die Hand nehmen könnte, und zwar nicht nur um Lufthansa und Co zu retten, sondern auch die Bildung in diesem Land.

 

Rosi Hein springt nochmal zurück zur von Hartmut Ring angestoßenen Digitalisierungsdebatte. Es gehe eben nicht darum, Medien aus der Schule fernzuhalten, sondern Kindern einen bewussten und mündigen Umgang damit beizubringen. Für sie sei der Umgang sowieso eine Selbstverständlichkeit. Zu glauben, man könne das einfach ignorieren, sei weltfremd. Es müsse aber dringend verhindert werden, aus der aktuellen Not eine Tugend zu machen und kritiklos digitale Angebote zu nutzen. Die Frage sei immer: Welcher Bildungsbegriff steht dahinter?

Dem pflichtet Martina Seifert bei. Für sie gehört digitale Bildung nicht nachhause, sondern in die Schule hinein. Man müsse sich dann aber grundsätzlich fragen, wie eine gute Schule denn aussehen soll. Es könne nicht sein, dass die Schüler*innen im 45-Minuten-Takt von einem Unterricht in den nächsten hetzen. So könne man gar nicht lernen, davon ist Seifert überzeugt. Die Diskussion werde zurzeit in einer Breite geführt, die es zu nutzen gelte.

 

Steffen Kludt verweist darauf, dass es schwierig sei, geeignete digitale Angebote zu finden, die nicht von großen Konzernen kommen. Diese Verantwortung könne nicht jede Lehrkraft allein leisten, hier müssen Bund und Länder endlich Konzepte entwickeln. Solange das nicht der Fall sei, könne man auch keine qualifizierte Fortbildung zu Digitalisierung leisten und den großen Konzernen wenig entgegenhalten. Ob das nun besser über eine zentrale Plattform organisiert werden sollte, wie in Finnland, oder doch lieber dezentral, da besteht noch Diskussionsbedarf.

 

Karl-Heinz Heinemann fragt, ob denn Digitalisierung das einzige Thema sei, bei dem man in der Krise dazugelernt habe. Er sieht in der aktuellen Situation ein Möglichkeitsfenster, Erfahrungen zu sammeln, die vorher als unmöglich galten: Es geht, dass ich nicht jeden Tag Auto fahre, es geht, dass ich nicht um die halbe Welt in den Urlaub fliege. Viele Menschen würden gerade neue Qualitäten in ihrem Leben entdecken. Daran anschließend sagt Möwes, die Digitalisierung sei zwar ein hilfreiches Instrument, aber gerade in den letzten 14 Tagen habe man in den Schulen gemerkt, wie wichtig es ist, den Schüler*innen zuzuhören und sie auch mit ihren Sorgen zu Wort kommen zu lassen – und zwar ganz persönlich, in der Schule. Das sei für eine gute Schule viel wichtiger als Leistungsdruck und Noten. Jede Prüfung, die wir aktuell weglassen, sei gut!

 

Gunhild Böth betont, dass sich nur leider auch in Schulen der hehre Fortschritt und humanistische Bildungsideale nicht von selbst durchsetzen werden. Auch Schule sei Klassenkampf. Es bräuchte eine positive Utopie für die Schule, mit vielen Bündnispartner*innen. Hier stimmt Rosi Hein zu: Es könne nicht sein, dass man immer noch an einer Schultradition und -struktur festhielte, die aus dem ständischem Berechtigungswesen kommt. Hier gelte es, diese Traditionen endlich infrage zu stellen. Karl-Heinz Heinemann fasst es nochmal zusammen: Es geht um die Frage, was relevanter ist – Prüfungen oder die soziale Entwicklung junger Menschen? Doch ob die Krise eine Chance enthält, das liegt laut Heinemann an den Kräfteverhältnissen. Das Rennen ist jedenfalls eröffnet und es bleibt viel zu tun.

 

 

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