Was sich nach Corona in der Schule dringend ändern muss

Susanne Gölitzer, Schulgründerin und Autorin

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Welche Bedeutung hat die allgemeinbildende Schule in der Gesellschaft und welche soll sie haben?

Die Antwort auf den ersten Teil der Frage ist: Ihre Bedeutung ist sehr unterschiedlich! Sie soll Abschlüsse vergeben, selektieren, zuteilen und ermöglichen. Das gelingt ihr für die bürgerliche Mitte gut. Für die ärmeren und prekären Schichten oder Klassen gelingt das weniger gut.

Die Antwort auf den zweiten Teil meiner Frage wäre meines Erachtens so zu beantworten: Die Schule sollte gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Entwicklung für jeden ermöglichen. Das geht nur, wenn sie ganz Unterschiedliches anbietet. Es geht nicht um ein MEHR in der Bildung, sondern um ein BESSER. Besser hieße: „individualisierter“ und „gemeinsamer“ zugleich.

Einige Beobachtungen aus der Coronazeit können illustrieren, wie bedeutungsvoll Schule sein kann:

Unsortierte Beobachtungen aus der Schulleiterinnenperspektive in der Coronazeit

Nach den Schulschließungen im März 2020:

-es kamen viele Kinder in die Schule

-alle Lehrerinnen und Lehrer haben mindestens einmal in der Woche eine Videokonferenz gemacht

-Einige der Schülerinnen und Schüler wurden in einer Kleingruppe in der Schule unterrichtet

-Lehrerinnen und Lehrer hatten ein großes Bedürfnis, den Raum zu gestalten, sich in Kleingruppen miteinander zu treffen

-Lehrkräfte suchten die Teamarbeit in Teams

-Es war ein Bedürfnis, die Schule weiterzuentwickeln: es wurden hybridformen des Treffens entwickelt, in denen Schule weiterentwickelt werden konnte

-Die Aufgabenformate in Moodle sollten nicht nur Ankreuzaufgaben und Arbeitsblatt-Aufgaben sein, sondern es wurden Filme gedreht, handlungsorientiert gearbeitet und gebaut und gewerkelt.

-Einige Arbeitsergebnisse von Kindern waren umwerfend toll

-Einige Kinder und Jugendliche sind abgetaucht

-Viele Eltern haben Panik bekommen, weil sie glaubten, den „Stoff“ könnten Kinder gar nicht mehr aufholen

-Der Gesprächsbedarf der Kinder und Jugendlichen in der Schule nach den Sommerferien war ungeheuer groß

-Die Schere zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet war weiter aufgegangen (einige hatten Lernfortschritte gemacht, andere hatten alles vergessen)

Schlussfolgerungen aus diesen Beobachtungen:
Die Qualität von Bildung bemisst sich daran, ob Freude, Beziehung, Herausforderung, Interesse und Anschlussfähigkeit erfahrbar wird.

-> Statt Stoff mehr Problematisierung: Was braucht man für was?

-> Entwicklungsaufgaben statt Lernziele für alle: intensivere Personalbetreuung je jünger das Kind

-> Sozialisierungsaufgaben  in der peergroup statt Normalitätsdruck in der Großgruppe, Klassen sind ein Auslaufmodell

-> Reflexion und Austausch mit Erwachsenen über gesellschaftlich relevante Fragen: politische Bildung gehört jeden Tag dazu

-> Variable Räume, variable Materialien, echte Beziehungen und echte Fragen, gemeinsame Unternehmungen

-> Schöne Umgebung: Materialien müssen dazu anregen, dass damit gearbeitet wird, Räume müssen entsprechend gestaltet werden

-> digitale Infrastruktur und digitale Ausstattung muss in der Schule attraktiv angeboten werden

-> Lernstrategien und Strategien zur Regulierung von Bedürfnissen, von Ängsten und Interessen sind nur in der konkreten Beziehung, im Tun zu erwerben

-> Fachwissen dient der Freiheit, sein Leben nach eigenen und gemeinsamen Werten zu gestalten: es ist dienend, aber zwingend

-> Aber auch: es muss sozial und persönlich unterschiedlich gearbeitet werden mit Kindern und Jugendlichen und dies ist nur möglich, wenn nicht alle das Gleiche erhalten, sondern unterschiedliche Ansprachen erfahren

-> Kinder und Jugendliche müssen mitentscheiden und mitgestalten dürfen: Sie erfahren sich als besonders wirksam, wenn sie wissen, warum sie etwas tun und mitbestimmen dürfen, wann sie was tun

Zum Schluss: Anregung zum Weiterdenken

  • Für die Kinder aus gebildeten und sicheren Haushalten ist ein Lockdown kein großes Problem, sondern eher eine Chance. Für Kinder, deren Eltern nicht deutsch sprechen, nicht lesen und schreiben können, ist der Verzicht auf Schule ein Wegfall sicherer Bildung oder einer wichtigen Sozialisationsinstanz.
  • Allerdings hat mich Corona gelehrt, was bei einigen Kindern und Jugendlichen so richtig schief läuft: Sie haben keine Anschlussfähigkeit an die Bildung, die wir vermitteln, weil ihnen Voraussetzungen fehlen, um überhaupt aufzuspringen auf den Zug.
  • Deshalb meine ich, wir brauchen nicht mehr Bildung in Schule, sondern mehr Qualität in der schulischen Bildung, der sozialpädagogischen und sozialen Angebotsvielfalt und dringend eine Veränderung des Abschlussmodells: Hauptschulabschluss, Realschulabschluss, Abitur. Diese Abschlüsse brauchen wir nicht. Wir brauchen mehr individualisierte und gleichwohl gemeinsame Lernerfahrungen. Es stellt sich nach Corona nicht die Frage der Schulform, sondern der Bildungsqualität.

Ein Gedanke zu “Welche Bedeutung hat die allgemeinbildende Schule in der Gesellschaft und welche soll sie haben? Input von Susanne Gölitzer”

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