Streitpunkt Schulstruktur
Bericht über die Diskussion mit Aladin El-Mafaalani
Am Montag, den 22.02.21, haben wir den Soziologen Aladin El-Mafaalani eingeladen, um mit ihm über sein Buch „Mythos Bildung“ zu diskutieren. Der Mythos liegt laut El-Mafaalani darin, dass Bildung nicht alle Probleme der Gesellschaft lösen kann, sondern dass die Schule unsere Gesellschaft mit ihren Widersprüchen widerspiegelt. El-Mafaalani beschreibt in „Mythos Bildung“ die Ungerechtigkeiten im deutschen Bildungssystem aus unterschiedlichen Perspektiven und fordert, Bildungsungleichheit endlich wieder in den Fokus der Politik zu rücken – eine Forderung, der sich der Gesprächskreis Bildungspolitik nur zu gerne anschließt. In seinem Buch geht El-Mafaalani immer wieder auf die von ihm zugrunde gelegten Begriffe von Bildung ein: Bildung im liberal-ökonomischen Sinne als Humankapital, Bildung im humanistischen Sinne als Persönlichkeitsentwicklung sowie Bildung im Sinne von Pierre Bourdieu als Distinktionsmerkmal in einer Klassengesellschaft. All diese Begriffe von Bildung seien miteinander verwoben und gleichzeitig wirksam. Auf pointierte Weise beschreibt El-Mafaalani, wie stark soziale Herkunft und Schulerfolg in Deutschland immer noch zusammenhängen. Doch was folgt daraus? Wie kann man dafür sorgen, mehr Gerechtigkeit in der Bildung zu erreichen – und gleichzeitig in unserer Gesellschaft? Muss man das überhaupt zusammen angehen? Hier hat El-Mafaalani viele Forderungen anzubieten, die schnell umsetzbar sind und gleichzeitig viel gerade für Kinder aus ärmeren Familien verändern würden: Eine Entlastung der Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams, ein ausgebauter Ganztag mit vielfältigen Angeboten, Sensibilisierung von Lehrkräften für die Lebensrealitäten ihrer Schüler*innen und hiermit verknüpft eine intensiviere Elternarbeit, um die Situation der Schüler*innen zuhause zu kennen sowie stärkere Förderung für Schulen in schwächeren Vierteln, um nur einige Punkte zu nennen.
Eine Schule für alle – unrealistisch?
Die Bandbreite der Forderungen zeigt, worum es El-Mafaalani geht: Bildungsungleichheit in so vielen Bereichen wie möglich reduzieren. Da gibt es ja nicht viel zu diskutieren, und eigentlich könnten sich ja alle einig sein, doch als der größte Streitpunkt erwies sich am Montagabend die Forderung nach der einen Schule für alle. Einige Diskussionsteilnehmer*innen sehen ein Problem darin, die Ziele einer Schulstrukturreform hintenanzustellen und stattdessen punktuell Ungleichheiten auffangen zu wollen. Die Bildungspolitikerin und ehemalige Gymnasiallehrerin Gunhild Böth sagt, so kann man zwar einzelne Bereiche von Schule effektiver oder migrationsfreundlicher machen, löst jedoch nicht das grundsätzliche Problem ungleicher Bildung, die in der Mehrgliedrigkeit ihren Ausdruck findet. Während El-Mafaalani diese Forderung nach einer Schule für alle zwar grundsätzlich unterstützenswert findet, sie jedoch als ideologisch motiviert und unrealistisch verworfen hat, fordern linke Bildungspolitiker*innen seit über hundert Jahren ein inklusives und gerechtes Schulsystem, in dem nicht bereits angelegt ist, Hierarchien in der Gesellschaft über unterschiedlichen Bildungserfolg zu legitimieren. Auch die Alliierten sahen übrigens nach Ende des 2. Weltkrieges einen Zusammenhang zwischen dem Rassismus und Antisemitismus in Deutschland sowie dem gegliederten Schulsystem und planten nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ein einheitliches System für alle. Die Gründe dafür, dass sich bis heute ein gegliedertes Schulsystem in Deutschland erhalten hat, sind vielseitig, doch die Sicherung von Privilegien ist ein wichtiger Faktor.
El-Mafaalani sieht diesen Punkt zwar, denkt jedoch vor allem pragmatisch. Es gibt in Deutschland nunmal sehr große Zustimmung zu dem Prinzip: Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Daran müsse sich Bildungspolitik eben orientieren. Wer sein Kind auf ein Gymnasium schickt, tut das nicht nur mit dem Gedanken an bessere Bildung im humanistischen Sinne, sondern auch mit dem Anspruch, dass die Kinder dort bessere Voraussetzungen für den Arbeitsmarkt erwerben als auf anderen Schulformen. Besser, als das Gymnasium abzuschaffen oder gar Gymnasium oder Gesamtschule für alle zu fordern, sei es das Bildungssystem an seinen eigenen Maßstäben zu messen: Der Leistungsgerechtigkeit. Wer viel leistet und aus einer ärmeren Familie kommt, soll auch ein Gymnasium besuchen, so El-Mafaalani, aber umgekehrt sollten auch die Kinder, die zwar aus Akademiker*innenfamilien kommen und bei denen es nie eine Frage war, ob sie einmal Abitur machen sollen, das Gymnasium wieder verlassen, wenn sie zwar über den entsprechenden sozio-ökonomischen Hintergrund verfügen, aber nicht die dem Gymnasium entsprechende Leistungsfähigkeit mitbringen. Ein gegliedertes Schulsystem sei nicht das Problem, und was über der Schule drübersteht auch nicht so wichtig. Es kommt darauf an, wie gut die pädagogische Arbeit ist, und die sei auch in ärmeren Vierteln häufig besser als an gutbetuchten Schulen, denn Mangel fördert Kreativität.
Lehrer*innenbildung muss sich verändern
Auch der Migrationshintergrund ist nur ein sekundärer Faktor, so El-Mafaalani. Zum einen wird der Begriff viel zu undifferenziert verwendet, zum anderen sind sozio-ökonomische Faktoren stärker wirksam. Ein Kind, dessen Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, dafür aber über akademische Abschlüsse verfügen, wird es trotzdem leichter haben als ein Kind aus prekären Verhältnissen. Dennoch kommt in der Diskussion die Frage auf, ob der vielzitierte monolinguale Habitus der Schule noch zeitgemäß ist oder nicht vielmehr an der multilinugalen Realität vorbeigeht. Multiprofessionelle Teams, die Lehrkräfte unterstützen sollen, finden alle gut. Doch was folgt daraus für die Lehrer*innenbildung? Karl-Heinz Heinemann weist darauf hin, dass es nicht darum gehen kann, Lehrkräfte wieder als reine Fachlehrer zu begreifen, die die sozialen Hintergründe ihrer Schüler*innen nach wie vor kaum kenne und „schwierige Schüler*innen“ dann zur jeweiligen pädagogischen Fachkraft schicken können, ohne sich selbst wirklich mit ihnen zu befassen. Umgekehrt sollten und können Lehrkräfte die Arbeit von Psycholog*innen oder Schulsozialarbeit natürlich nicht ersetzen. Dennoch muss in der Lehrer*innenbildung an Schulen viel mehr im Team gedacht und gelernt werden, wenn dies später auch in der Schule Realität sein soll.
Zu kurz kommt an diesem Abend das Thema der frühkindlichen Bildung und die Situation der Grundschulen, die El-Mafaalani für besonders zentral hält. In die frühe Phase vor der Selektion in verschiedene Schulformen sollte zuerst investiert werden, und die Grundschulzeit am besten um zwei Jahre verlängert. Aber reicht das? Brauchen wir überhaupt die Selektion, wenn doch in Grundschulen das gemeinsame Lernen seit Bestehen der Grundschule überhaupt funktioniert? Wie steht es um das Thema Noten? Sind die wirklich unumgänglich, oder kann und sollte man trotz allem Pragmatismus auch im Hier und Jetzt wagen, Forderungen zu stellen, die zwar nicht mehrheitsfähig, aber dafür wissenschaftlich gut begründet sind? Und ist es wirklich utopisch, multi-professionelle Teams nicht nur als Ergänzung zu betrachten, sondern auch die Lehrer*innenbildung insgesamt kritischer zu gestalten?
Diese Fragen können an einem Abend nicht alle beantwortet werden. Doch die Diskussion hat gezeigt, dass die Bekämpfung sozialer Ungleichheit in der Schule beides erfordert: Konkrete und jetzt umsetzbare Maßnahmen, die die Lehrer*innenbildung, die Arbeit mit den Schüler*innen und die Organisation der Schule von innen betreffen, aber ebenso eine klare Vorstellung davon, zu welchem Zweck diese Maßnahmen eigentlich getroffen werden und welches Ziel damit erreicht werden soll – ohne zu glauben, die eine Schule für alle behebe sämtliche Ungleichheiten der kapitalistischen Gesellschaft. Eines hat El-Mafaalani geschafft: Das Thema Bildungsungleichheit wieder stärker in der Gesellschaft verankert und eine Debatte angeregt, wie man allen Menschen unabhängig von ihrem sozio-ökonomischen Hintergrund gute Bildung ermöglichen kann. Auch wenn „Mythos Bildung“ aus linker Perspektive nicht alle Probleme der Bildungsungleichheit löst und in einigen Punkten zu deskriptiv bleibt, bietet El-Mafaalani viele praxisnahe Anregungen und erreicht mit seinem Buch und seiner klaren Sprache auch Menschen außerhalb des akademischen Raums. Wir danken ihm für die kontroverse und spannende Debatte.