Karl-Heinz Heinemann: Was ist Bildung?
Und welche Bildung wollen wir? Linke? Emanzipatorische? Kritische? Ich bin ehrlich gesagt ratlos, habe darüber so viel gelesen und geschrieben, so unterschiedliche Konjunkturen des Begriffs erlebt, dass ich mir nicht anmaße, dazu eine gültige Antwort geben zu können. Und diese ganzen Attribute sind sinnlos: Bildung kann nur kritisch sein und Emanzipation zum Ziel haben. Und wenn es keine rechte Bildung gibt, kann es auch keine linke geben, zumal das Ergebnis eines Bildungsprozesses offen sein muss.

Wir brauchen einen Bildungsbegriff, nicht, um die sich darauf beziehende Disziplin von anderen Wissenschaften abzugrenzen. Sondern wir brauchen einen Begriff, um die Eigenständigkeit von Bildung gegen neoliberale Unterwerfungspolitik  zu behaupten, um Reformangebote kritisieren und einordnen und um selbst auch ein Ziel von Bildungspolitik entwickeln zu können.

Was wir nicht wollen ist Bildung als Distinktionsmerkmal. Womit wir Probleme haben ist Bildung als Selektions- und Zuteilungsinstrument. Doch diese Funktion aufzuheben ließe sich nur über eine Veränderung von Arbeit, Beschäftigung und gesellschaftlicher Hierarchisierung erreichen. Die Bindung von Schulabschluss und beruflicher Position müsste aufgelöst werden (was längst im Gange ist – der taxifahrende Historiker) und die Institutionen – vor allem Schule und Hochschule – durch ein System permanenter Bildung, durch ein flexibles System freier Bildung ersetzt werden. (Siehe dazu Alex Demirovic: Bildung und Gesellschaftliche Arbeitsteilung, in: Luxemburg 2/21, S. 78-80) Also: Alternativen zur Schule und Hochschule, das würde auch die Kritik an diesen Institutionen aufgreifen und dem alten Ruf nach Abschaffung der Schule eine reale Perspektive geben. Real aber erst im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Veränderung von Arbeiten und Wirtschaften. Gegenwärtig ist es völlig legitim, wenn institutionelle Bildung, der Erwerb nicht nur von Abschlüssen, sondern auch von Kenntnissen und Fähigkeiten instrumentell, als Weg zu einer attraktiveren beruflichen Position gesehen wird. Ein linkes Bildungskonzept muss das berücksichtigen.

Zu einer Zeit, als in der Alt-BRD und der 68er-Bewegung „Bildung“ als ein Begriff aus der Mottenkiste der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in Verruf war, sprachen wir von Doppelqualifikation: Wir eignen uns Kenntnisse und Fähigkeiten an, die wir einerseits für eine sinnvolle und auskömmliche Position im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess benötigen, mit denen wir andererseits aber in der Lage sind, unsere eigene Tätigkeit im Rahmen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses hinterfragen zu können. Diese Fähigkeiten wird man dann erwerben (wollen), wenn man auch die Möglichkeit hat, sie einzusetzen – also, einerseits eine sinnvolle Arbeit zu finden und andererseits auch Möglichkeiten ergreifen kann, sich einzumischen, auch dort, wo man eigentlich nicht gefragt ist.  Kann das die Schule?

Bildung braucht einerseits Distanz und die Fähigkeit zur Distanzierung, also Dinge kritisch zu betrachten, auch eigene Standpunkte infrage zu stellen, über das eigene Blickfeld hinaus gesellschaftliche und globale Probleme zu sehen und anderseits Nähe, also die Bereitschaft, sich einzumischen. Damit sind wir bei den Klafkischen Schlüsselproblemen: Umwelt, Frieden soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte. Oder, zugespitzt wie bei Matthias Greffrath: Was brauchen wir im Anthropozän?

Kann man das in einer tendenziell „totalen Institution“ wie der Schule lernen, in der alles und alle nur nach von außen gesetzten Regeln agieren? Wohl kaum. Schule neu denken: ein sozialer Ort, der nicht in den Schuhkartons klassischer Schularchitektur stattfindet. In dem nicht nur Lehrerinnen, sondern auch andere Menschen, die Wissen, Erfahrungen und Engagement vermitteln können, Schülerinnen helfen, sich Ziele zu setzen, sich Aufgaben zu stellen und sie auch zu lösen, egal, ob in oder außerhalb der Schule, vielleicht auch mal am Bildschirm.

Ein Gedanke zu “Was ist Bildung? Von Karl-Heinz Heinemann”

  • Zu Karl-Heinz Heinemann: Was ist Bildung?

    Will man den Bildungsbegriff nicht bis ins letzte Detail – wie bspw. Klafki – mit allen implizierten Bildungszielen durchdefinieren (was hier weder rein quantitativ möglich noch sinnvoll ist), so bleibt in diesem Zusammenhang lediglich die Möglichkeit einer stark verallgemeinernden (Arbeits-)Definition, zunächst ohne systemspezifische Zieldefinitionen, wie sie der konventionellen Bildungsdefinition qua ‚reiner Lehre‘ und zunächst ohne Zugrundelegung einer (institutionalisierten) Systematik entspricht: die Aneignung von Kenntnissen (Allgemein- wie Spezialwissen) und Fähigkeiten (allgemeines wie fachliches Können, einschließlich Fertigkeiten), wobei der landläufig genutzte Bildungsbegriff die Fähig- oder Fertigkeiten gar nicht beinhaltet (je mehr jemand weiß, also an individuellem Wissen angehäuft hat, umso gebildeter erscheint er; demgegenüber wird ein mit umfassenden Computerfachkenntnissen ausgestatteter Programmierer [Fachwissen] oder ein Weltklassesportler oder -artist [Fertigkeiten] nicht unbedingt als gebildet betrachtet). Der Zusatz, „um zu …“ – also Zeck und/oder Zielsetzung – ist bereits subjektiv abhängig vom jeweils zugrunde liegenden Herrschaftssystem, auch wenn allen i.d.R. das gemeinsame Ziel einer Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion durch Arbeit(steilung) zugrunde liegt.
    Vereinfacht betrachtet gibt es unter diesem Aspekt zunächst lediglich zwei sich gegenseitig ausschließende Bildungsdefinitionen, wie sie den jeweils unterschiedlichen (Ideal-)Zielen von Bildungspolitik zugrunde liegen: 1.) die einer freiheitlich-demokratischen (inhaltlich offenen) und b.) die einer diktatorisch-autokratischen (inhaltlich geschlossenen) Bildungsdefinition – woraus sich in der Praxis nahezu unendlich viele Zwischen- oder Mischformen hieraus ergeben wie bspw. der einer „neoliberale(n) Unterwerfungspolitik“ (Karl-Heinz).
    Die Aussage „Bildung kann nur kritisch sein und Emanzipation zum Ziel haben“ und sie muss als „Ergebnis eines Bildungsprozesses offen sein“ (Karl-Heinz) basiert folglich bereits auf einer freiheitlich-demokratischen (nicht aber notwendigerweise ausschließlich linken) Weltanschauung, nach welcher Bildung objektiv ohne jedwede (äußere) Einschränkungen vonstattengehen muss. Jede Offenheitseinschränkung würde folglich dem idealen Bildungsbegriff entgegenstehen.
    Konsequenterweise kann es weder eine ‚rechte‘ noch eine ‚linke‘, sondern lediglich eine freiheitliche Bildung geben, weil diese Begriffe einen inneren Widerspruch darstellen würden; denn eine politisch tendenziell zielgerichtete Bildung lässt keine offene oder dialektische Denkweise zu, um sich bzw. das zugrunde liegende Herrschaftssystem nicht selbst in Frage stellen und damit in ihrer (Pseudo-)Legitimität gefährden zu lassen. Diese Feststellung beinhaltet jedwede diktatorische Bildungszielsetzung, gleich welcher politischen ‚Farbgebung‘.
    Unter dieser Betrachtungsweise mag festgestellt werden, dass es Ziel eines jedweden diktatorischen (nicht ausschließlich ‚rechten‘) Bildungsideals sein muss, das Volk zwecks Etablierung individueller Machtansprüche möglichst ungebildet (und lediglich zweckbestimmt fachlich ausgebildet) zu halten. In diesem Sinne ist der Bildungsbegriff als universell im freiheitlich-offenen Sinne anwendbar zu betrachten. Und er impliziert zumindest die theoretische Möglichkeit für jedes Mitglied einer Gesellschaft eines kritisch-emanzipatorischen Denkens wie Verhaltens, was idealiter zwangsläufig – den aktuellen Wissens- oder Kenntnisstand zugrunde gelegt – unter rationaler Betrachtungsweise zu keinen anderen Ergebnissen dialektischer Denkprozesse führen kann als eine freiheitliche Demokratiebefürwortung (ergo unter Abwägung aller Vor- wie durchaus auch vorhandenen Nachteile dieser Regierungs-form), Umweltschutz, Friedenserhalt, soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte (einschließlich Antirassismus und Antisemitismus). Im Zusammenhang mit Schulbildung stellt sich die Frage, ob bzw. wie diese Zielsetzungen institutionell gefördert (oder gar gefordert) werden oder ob Schule lediglich die potentielle Möglichkeit sicherstellen muss, diese Ziele zu verfolgen.
    Zur Sicherstellung der o.g. Teilzielerreichung muss Schule eine solche freiheitliche Denkweise ausdrücklich zumindest fördern, denn allein die Kant’sche Feststellung, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, reicht hierfür nicht aus, so lange diese rationalen Fähigkeiten nicht zum Wohle der Allgemeinheit mehrheitlich genutzt werden (wie aktuell deutlich anhand populistischer und anderer irrationaler Strömungen beobachtbar ist).
    Reduziert auf die Frage der Schulbildung muss diese – neben der Vermittlung der für ein (subjektiv empfunden) sinnerfülltes Leben benötigten (auch Methoden-)Kenntnisse und Fähigkeiten – zudem die Zielsetzung verfolgen, den Schülerinnen und Schülern eine geeignete und ausreichende – breit gefächerte – Grundlage zu bieten für den Eintritt in eine nächste, spezialisierende Phase (Stichwort: gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung), entweder in die einer Berufsausbildung oder in die eines vertiefenden (Hoch-) Schulstudiums. Insbesondere hier stehen inhaltliche Aspekte in direkter Abhängigkeit zum jeweils dominierenden politischen System bzw. zur Herrschaftsform.
    Hiervon unabhängig zu betrachten sind die jeweils systemabhängigen, für den jeweiligen (Aus-)Bildungsabschluss benötigten (wie auch immer gemessenen oder bewerteten) Leistungsanforderungen zwecks ökonomisch angemessener bzw. sinnvoller Allokation der Heranwachsenden in die Berufswelt, idealiter unabhängig von deren sozialer Herkunft (in der Praxis – schulsystembedingt – erfolgt diese Selektionsfunktion jedoch statistisch überdurchschnittlich häufig in Abhängigkeit von deren sozialem familiären Hintergrund). Ob ein ‚linkes Bildungskonzept‘ hier probate Alternativen böte, bleibt ggf. noch zu diskutieren.

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