Kann man den Lehrkräftemangel durch mehr Internet-Lernen beheben? Manche scheinen darin eine kurzfristige Lösungsmöglichkeit zu sehen. Wir denken: das ist der falsche Weg. Seht dazu den Kommentar von Karl-Heinz Heinemann. Wir brauchen mehr gemeinsames Lernen. Beispiele dafür gibt es an der Green-Gesamtschule in Duisburg-Rheinhausen. Die nun pensionierte Schulleiterin Martina Seifert stellt sie vor.
„Wer den Aufstieg ermöglicht, schafft das Tal nicht ab!“ (zitiert nach Klaus Klemm) – Interventionen einer Schule, die sich dem Kampf um Bildungsgerechtigkeit verschrieben hat.
Die Green Gesamtschule (vormals Gesamtschule Körnerplatz) ging am 12.08.2015 als Sekundarschule Rheinhausen an den Start. Der Schulgründungsprozess war mit der Kritik der Schule an der für sie bestimmten Schulform vom ersten Tag an eng verknüpft. Die Gründung als Sekundarschule empfanden wir als „bildungsungerecht“.
Zum Hintergrund: Im Juli 2011 vereinbarten die politischen Akteur*innen des Düsseldorfer Landtages den sog. Schulkonsens, der in NRW eine weitere, integrierte Schulform – die Sekundarschule ohne Oberstufe – auf den Weg brachte und gleichzeitig verabredete, das selektive Gymnasium unangetastet zu lassen. Dies geschah zudem zu einem Zeitpunkt, als der Skandal, dass die Bundessrepublik im Vergleich mit anderen Ländern schwere Versäumnisse in der Frage der Inklusion zu verantworten hatte, deutlich wurde. Die Frage, wie eine Schulform Gymnasium, der es noch nicht einmal gelingt, sog. Hauptschüler*innen zu integrieren, sich der Vielfalt widmen sollte, wurde ignoriert und beiseite geschoben.
Für uns war von Anfang an klar, dass die Frage nach Bildungsgerechtigkeit ganz eng mit der Diskussion um die Schulstrukturdebatte verbunden ist. Wir starteten mit 120 Schüler*innen, von denen grob 40 bei uns „sein wollten“, weil sie vorher schon keine Chance sahen, von einer der anderen Schulen im Viertel aufgenommen zu werden. Der Rest der Schüler*innen wurde von den anderen Schulen abgelehnt. In Steinwurfnähe befinden sich 2 Gymnasien und zwei Gesamtschulen – die Sekundarschule war damit die einzige Schule im Stadtteil ohne eigene Oberstufe und fand, das war für uns keine Überraschung, bei Schüler*innen und Eltern keine Akzeptanz. Dass die Schulform mindestens im großstädtischen Raum nicht funktionieren kann, zeigte dann auch eine Studie 2016, die von Marc Mulia u.a. von der Universität Bochum vorgelegte Studien. https://www.rosalux.de/publikation/id/9131/auf-dem-weg-zu-einer-schule-fuer-alle?cHash=a8dfe4342ffcbe0d0a36d23d8725432a.
Für die Schule kam erschwerend dazu, dass der amtierende Oberbürgermeister der Stadt Sören Link als schulpolitischer Sprecher der SPD diesen Schulkonsens maßgeblich verhandelte. Und so startete die Stadt Duisburg voller Zuversicht die Offensive, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, in dem man das Ziel ausrief, alle Haupt- und Realschulen in Sekundarschulen umzuwandeln. Dieser Prozess ist gestoppt und aus den drei Sekundarschulen in Duisburg sind nur noch 2 übrig geblieben.
Die Sekundarschule Rheinhausen wurde von Anfang an als „Restschule“ wahrgenommen. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Selbstkonzepte der SchülerInnen, die zu uns kamen. Sie hatten kein Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit, denn vielfach hatten sie schon in der Grundschule keine gute Schulerfahrung gemacht – sie bekamen dort bereits den Schulformstempel – und auch kein Vertrauen zu uns. Im Stadtteil mussten sie sich immer wieder gegen Anfeindungen – vielfach auch rassistischen – zur Wehr setzen, denn von Anfang an war es uns ein Herzensanliegen, Interkulturalität in den Fokus unserer Arbeit zu nehmen, ein Ansatz, der in einer gespaltenen Gesellschaft nicht auf ungeteiltes Lob stößt.
Die Startbedingungen waren also mehr schlecht und zeigten sich auch in der Zusammensetzung des Kollegiums: 2017 bestand das Kollegium zur Hälfte aus Kolleg*innen im Seiteneinstieg, mit der entsprechend niedrigen Bezahlung und einem vergleichsweise geringen Erfahrungsschatz in Bezug auf Unterricht und die bildungspolitische Begleitung von Schüler*innen. In einer Anhörung im Düsseldorfer Landtag im Oktober 2019, zu der ich als Expertin geladen war, habe ich die These gewagt, es gäbe in ganz NRW keine „billigere“ Schule als die Sekundarschule Rheinhausen.
Im letzten August wurde dann die Sekundarschule Rheinhausen in eine Gesamtschule umgewandelt. Dieser Schritt ist auf der Oberfläche ein wichtiger Schritt hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit, weil in einem Stadtteil Duisburgs nun das Zweisäulenmodell umgesetzt wurde. Dies ist ein Kompromiss, denn von „Einer Schule für alle“ sind wir meilenweit entfernt und können auch nicht die Augen davor verschließen, dass Schulen, je nachdem in welcher Stadt – oder in welchem Stadtviertel sie liegen, ganz divergierende Bedingungen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Bildungschancen der Schüler*innen durch die sachliche oder personelle Ausstattung aufweisen.
Die Entscheidung, die Schule umzuwandeln wurde getroffen, weil wichtige Akteur*innen in der Stadt das Potential der Schule erkannten, die einen wichtigen, integrativen Beitrag in Rheinhausen leistet.
Seit dem Schuljahr 2015/2016 arbeiten wir mit lokalen Akteur*innen mit dem Ziel, Lernangebote zu erweitern und die starre Anordnung schulischen Lernens aufzubrechen, zusammen. Die Schule ist bis einschließlich Jahrgangsstufe 11 aufgebaut und beheimatet zur Zeit 1080 Schüler*innen, darunter viele Kinder und Jugendliche mit Migrations- und Fluchterfahrung, manche gehören der Volksgruppe der Sinti oder Roma an. Viele Familien leiden unter schlechten und engen Wohnverhältnissen, Armut und Rassismus.
Die Situation der Schule und die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft bilden den Hintergrund für den transformativen Anspruch der Schule, der herkömmliche Lernkonzepte sprengt – und sprengen muss. Hier werden Kooperation und ganzheitliches Lernen im sozialen Raum der Schule zusammengedacht, um die Selektionsmechanismen von Bildung und Schule zumindest teilweise zu durchbrechen. Wir sehen die Kreativität, die Lernfreude und -bereitschaft der Schüler*innen, sind interessiert an ihren Lebensbedingen und neugierig auf ihren kulturellen Background. In Projekten, dem Kooperativen Lernen (https://www.gesamtschule-koernerplatz.de/unsere-schule/im-ueberblick/konzepte/unser-schulkonzept-kooperatives-lernen/) , dem implementierten Projekttag (https://www.gesamtschule-koernerplatz.de/?s=Eida) und den Theater- und Musikprojekten der Schule (https://www.gesamtschule-koernerplatz.de/?s=Bahtalo) verpflichten wir uns zum demokratischen Diskurs, zur Ambiguitätstoleranz.
Die Umsetzung dieses Konzeptes erreichen wir durch eine in der Schule vollständig implementierte Kooperationskultur, die sich sowohl im Unterricht, als auch in der Lehrer*innenschaft und in der Zusammenarbeit mit Eltern und außerschulischen Partner*innen zeigt. Die Schule ist in den Gliederungen der Zivilgesellschaft ebenso vernetzt wie im politischen und universitären Raum und hat im Rahmen von 2 Bewerbungen für den Deutschen Schulpreis herausragende Rückmeldungen bekommen. Beide Bewerbungen und alle Unterlagen dazu sind auf der Homepage der Schule https://www.gesamtschule-koernerplatz.de/ unter „Unsere Schule – im Überblick – Bewerbung um den Deutschen Schulpreis zu finden“. Im Jahr 2018-2018 verfehlten wir knapp die Gruppe der förderungswürdigen 20 Schulen und im Mai 2021 wurde der Schule der Deutsche Schulpreis Spezial in der Kategorie „Zusammenarbeit in Teams stärken“ durch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier verliehen. So kritisch wir die Verlagerung des Diskurses über Schul- und Unterrichtsqualität in den Einflussbereich von Stiftungen (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/einfluss-von-stiftungen-genau-hinsehen/) betrachten, ist es dennoch bemerkenswert, dass eine Schule wie die Green Gesamtschule diesen Preis gewonnen hat, weil wir uns in unserer Wahrnehmung deutlich von anderen Schulen dadurch unterscheiden, dass wir die Organisationsformen von Schule (Fächer, Noten, Selektion) ganz grundsätzlich in Frage stellen und in Teilbereichen in unserer Praxis ganz erheblich gegen den Strich gebürstet sind. In den Bewerbungsverfahren trafen wir auf eine nicht geringe Anzahl von Bildungswisenschaftler*innen und Kolleg*innen aus der Bildungsadministration, die die sich für Veränderungen im Bildungsbereich einsetzen. Dies betrifft die Entwicklung von Unterricht gleichermaßen wie die notwendigen Veränderungen der Lehrer*innenbildung und der Lehrer*innenarbeitszeit. Die Rekontextualisierung der Erkenntnisse aus dem Umfeld des Deutschen Schulpreises in Bezug auf Erlasse, Verfügungen und Gesetze bleibt allerdings eine Leerstelle, die dringend geschlossen werden muss.
Unser Erfolg als Schule liegt zu einem erheblichen Teil in einem klugen Konzept, die Kooperation der LehrerInnen zu organisieren.
(https://www.gesamtschule-koernerplatz.de/wp-content/uploads/2020/12/20_12_19-%C3%9Cberarbeitung-Team-Modell.pdf). Dieses Konzept ist wirkliche kein Hexenwerk und u.E. leicht in Schulen umzusetzen – auch außerhalb von NRW – und so haben wir dem Ministerium für Schule und Bildung NRW selbstbewusst angeboten, dieses Modell vorzustellen. Diesem Modell liegt die Überzeugung und Erfahrung zugrunde, dass die herausfordernde Arbeit an der Green Gesamtschule nur im Diskurs zu leisten ist. Dies gilt u.E. für alle Schule, stellen sie sich den gesellschaftlichen Herausforderungen. Die Veränderung der Lehrer*innenarbeitszeit ist eine unmittelbare Konsequenz, die aus unseren Erfahrungen gezogen werden müsste. Wir sind gespannt ob unser Schulministerium auf uns zukommt.
Schauen wir uns die Interventionen der Schule an, Bildungschancen zu erhöhen, Bldungsungerechtigkeit zu begegnen, zeigt sich auch bei den Schulen rund um den Deutschen Schulpreis kein einheitliches Bild dazu, wie Schulen mithelfen können, die soziale Spaltung zu verringern, diese zu thematisieren und ihre Konzepte auf notwendige Transformationen umzustellen. Schulen mit Lernbüros (vielfach arbeiten hier SchülerInnen mit Arbeitsblättern auf drei Niveaustufen (sic – Dreigliedrigkeit ohne Strukturen der Ko-konstruktion kognitive Kompetenzen ab, eine Beobachtung, die wir vor dem Hintergrund unserer Überlegungen mehr als problematisch finden) sind ebenso preiswürdig wie Schulen, die einem umfänglichen kooperativen Ansatz fahren. Hier wird es sich zeigen, welche Konzepte als tragfähige Antwort gesehen werden, Schüler*innen zu bilden. Wird Schule nicht genutzt, um das Denken in seiner ganzen Breite zu trainieren und die Horizonte zu weiten, werden Schüler*innen auch nicht mit den wesentlichen Fragen unserer Zeit konfrontiert. Gesellschaftlich zentrale Themen wie Armut, Ökologie, Geschlechterdiversität oder Krieg werden gar nicht oder selten ganzheitlich behandelt und zerfasern im herkömmlichen Unterricht in kompetenzorientierte Bausteine, die vielfach bei den SchülerInnen erwünschte Antworten produzieren, ohne, dass es uns durchgängig gelingt, an die Werthaltungen, Gedanken und Gefühle der SchülerInnen zu gelangen. Selten sehe ich Unterricht, in denen Lehrer*innen und Schüler*innen empört sind. So fällt es auch uns in der herrschenden Schulstruktur schwer, neue Perspektiven zu entwickeln, die doch so zentral wären angesichts der existenzbedrohenden Herausforderungen, denen die Menschheit aktuell gegenübersteht. Und so fällt es eben auch schwer, die SchülerInnen für gesellschaftliche Partizipation zu gewinnen, die doch so notwendig dafür ist, dass wir gemeinsam dem Tal – die fundamentale Spaltung unserer Gesellschaft – begegnen können. Insofern sind wir uns in der Schule bewusst, dass wir Schüler*innen zu einer nicht geringen Zahl aus Armut herausbrechen und mittels Bildung vor Armut bewahren – nicht mehr aber auch nicht weniger. Über Bildung / Schulen grundsätzliche, gesellschaftliche Veränderungen zu realisieren, gehört m.E. in den Bereich der Mythenbildung, Menschen dafür aber zu gewinnen sich in den gesellschaftlichen Diskurs einzumischen, gesellschaftliche Realität zu verändern, dazu können Schulen einen wichtigen Beitrag leisten – insofern sind wir realistisch und versuchen das Unmögliche weiter!
Martina Seifert