Schöne neue Bildungswelt?

Die Privatisierung von Bildung

mit Prof. Dr. Tim Engartner 

Wann? 13.11. um 18 Uhr

 

 

Tim Engartner ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Universität zu Köln. Er forscht zu Konzeptionen sozioökonomischer Bildung, zu Einstellungen von Lernenden sowie zum Wandel von Staatlichkeit. Seine Studie Ökonomisierung schulischer Bildung ist im Jahr 2020 in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie dem Gesprächskreis Bildungspolitik entstanden und kann hier eingesehen werden. 

 

 

Schöne neue Bildungswelt? Die Privatisierung von Bildung

 

Auf Einladung einer Stiftung, die Bildungsförderung betreibt, im Rahmen einer Veranstaltung des GESPRÄCHSKREISES „Bildungspolitik“ vor Bildungsexpertinnen und -experten über Bildung zu sprechen, stellt natürlich eine Herausforderung dar, aber ich hoffe doch, nicht allzu viele Eulen nach Athen zu tragen, sondern Ihnen und Euch auch einige neue Ein- und Ausblicke liefern zu können.

 

Leitende Fragen

 

  • Wie hat sich die Entwicklung der Privatisierung in den letzten Jahren vollzogen?
  • Warum ist diese Entwicklung kritisch?
  • Was bedeutet die zunehmende Privatisierung im Bildungssystem für die Bildungschancen Heranwachsender?
  • Und: Welche Alternativen müssen wir zum Trend zunehmender Privatisierung im Bildungssystem entwickeln?

 

 

GLIEDERUNG

 

Vorbemerkung

  • Privatisierung im Schulsystem: Boom von Privatschulen, Lobbyismus von Privatunternehmen, Verkürzung des Bildungsverständnisses auf berufliche Verwertbarkeit
  • kurz: Privatisierungstendenzen im Hochschulsektor
  • Schluss: 4 bildungspolitische Forderungen: Was nur öffentliche Bildung leisten kann

 

Vorbemerkung

 

  • Die „Bildungsrepublik Deutschland“ befindet sich im freien Fall.
  • 000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die weiterführende Schule ohne Abschluss.
  • Jedes 5. Kind geht von der Grundschule ab, ohne den Mindeststandard im Rechnen, Schreiben oder Lesen erreicht zu haben.
  • Die in der Schule vermittelten Kenntnisse der Bruch-, Potenz- und Wurzelrechnung genügen selbst denjenigen vielfach nicht mehr, die ein Wirtschafts-, Mathematik- oder Technikstudium aufnehmen möchten. Immer mehr Hochschulen bieten Propädeutika an, um die Studierfähigkeit herzustellen – und dennoch befindet sich die Zahl der Studienabbrecherinnen und -brecher ebenso wie die der Studienfachwechslerinnen und -wechsler auf einem verlässlich hohen Niveau.
  • Rechtschreibung und Zeichensetzung sind in Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche knapp 3,5 Stunden pro Tag vor digitalen Endgeräten verbringen, abhandengekommen.
  • Gleichzeitig geben 73 Prozent der Kinder nach wie vor an während der Corona-Pandemie entwickelten psychischen Belastungen wie Depressionen oder Essstörungen zu leiden.
  • 16 Prozent der 25- bis 34-Jährigen stehen ohne Berufsausbildung oder Abitur dar.
  • Und auch die Lehrkräfte sind immer häufiger überfordert, so dass sie weit überwiegend in Teilzeit arbeiten oder krankheitsbedingt vorzeitig aus dem Beruf ausscheiden. Ein Viertel leidet an Burnout.

 

  • eine zentrale Reaktion: Privatisierung, und zwar in sämtlichen Teilbereichen des Bildungssystems!

 

  • zentraler Grund für Privatisierung des Bildungssystems ist dessen chronische Unterfinanzierung ® „Nur weil Kinder gerne im Dreck spielen, heißt es noch lange nicht, dass die Schulen auch so aussehen müssen.“

 

  • Apple, Microsoft und Samsung an Schulen: kostenlose Notebooks & Tablets (Trend zum „buchlosen“ Lernen)

 

  • private Nachhilfeanbieter wie Schülerhilfe, Schülercampus, Studienkreis oder abiturma die Schulbildung: Jeder 4. Schüler / Jede 4. Schülerin nimmt Nachhilfe!

 

  • In Deutschland öffnete zeitweilig jede 2. Woche eine neue Privatschule ihre Pforten. Jedes 10. Kind besucht inzwischen eine Privatschule.

 

  • Staatliche Hochschulen sind dem Wettbewerb nicht nur ausgesetzt, wenn sie mit der Fernhochschule AKAD, der Hochschule für Oekonomie und Management (FOM), der Europäische Fernhochschule Hamburg (Euro-FH), der Hochschule Fresenius oder einer der anderen rund 100 Hochschulen in privater Trägerschaft um Studierende buhlen.

Konkurrenz auch um Mio. Euro an Drittmitteln aus der Privatwirtschaft

 

  • Bildung wird im Zeitalter von PISA und Bologna immer mehr an unmittelbar ökonomisch nutzbaren Fachkompetenzen gemessen → Bildungsreformen nach PISA-Maßstäben haben zu Reduktion des Lernens auf Wissen u seine Verwertbarkeit geführt

→ Naina: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete o Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“

Heinz-Elmar Tenorth zu PISA: „Ökonomisierung von Bildung statt freier Menschenbildung, Selektion als Prinzip statt individueller Förderung“

 

  • Ob PISA-Ergebnisse o Gewaltexzesse an der Berliner Rütli-Schule–Reputationsschaden, der mit jedem Staatsschulskandal unweigerlich entsteht, wird nicht als Folge einer verfehlten Sparpolitik gedeutet, sondern als Beleg für die Unzulänglichkeit staatlicher Bildungseinrichtungen! → Eltern, die es sich leisten können, reagieren auf Berichte über Mängel an öffentlichen Schulen mit Wechsel an Privatschulen

 

  • unternehmerischer Einfluss im Bildungssektor lässt sich u. a. daran ablesen, dass durch die von den Kultusministerien ausgegebene Losung der „Öffnung von Schule“ privat-öffentliche „Bildungs- und Lernpartnerschaften“ historische Ausmaße erreicht haben. So ergab die Befragung der Schulleitungen im Rahmen der PISA-Studie 2006, dass mehr als 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchen, an der Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehrinhalte nehmen. → selbst im OECD-Vergleich Negativrekord!

 

  • Privatisierung von innen + Privatisierung von außen: Sogar Schulgebäude fallen mehr u mehr in Hände privater Betreiber → Öffentlich-private Partnerschaft als vermeintliche Zauberformel. Privatunternehmen bauen, renovieren u betreiben Schulen, werden mitunter sogar mit der Einstellung von Hausmeistern u Reinigungspersonal betraut: Vorreiter: Landkreis Offenbach, der bereits 2004 die Sanierung und Bewirtschaftung der 90 Schulen des Kreises im ÖPP-Gesellschaftsmodell an Privatunternehmen übertrug (im Osten an Hochtief) / auch vier Schulen in Frankfurt/Main und 15 Berufsschulen in Hamburg mit einem Investitionsvolumen von 320 Mio. Euro

 

  • Serco in GB mit „Allround-Programm“ für Schulen – neben administrativen Aufgaben und dem Finanzmanagement übernimmt es das Festlegen von Bildungsstandards sowie das Messen von Schülerleistungen PLUS Lehrerausbildung (initial teacher training)

 

 (1) Das Geschäft der Privatschulen: Profit vor Pädagogik

 

  • Undichte Fenster, verschimmelte Wände, defekte Heizungen, verschmutzte Toiletten – an vielen Schulen in Deutschland herrschen unhaltbare Zustände.
  • anekdotische Erfahrungsberichte, wonach vielerorts ganze Schulgebäude marode sind, deckt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen: Auf mittlerweile 45,6 Mrd. Euro wird der Sanierungsstau an Schulen im aktuellen KfW-Kommunalpanel geschätzt.
  • Image des staatlichen Regelschulsystems ↓ → Mehr als Hälfte der Eltern würde Kinder laut einer Forsa-Umfrage an einer Privatschule anmelden, wenn das Schulgeld dem nicht im Wege stünde
  • Jedes 10. Kind besucht bereits auf eine Privatschule.
  • nicht nur Internate wie Schloss Salem o Schloss Torgelow, sondern auch konfessionsgebundene Schulen, International Schools, Eliteschulen für Sport, Musik und Kunst sowie Berufs-, Förder- und Waldorfschulen → Phorms Schulen u Swiss International School, die mittlerweile in 7 deutschen Städten (u.a. in Frankfurt, Kassel u Berlin) ein Ganztagskonzept mit bilingualem Unterricht vorhält (zählt zu Klett-Gruppe)
  • optimale Förderung in kleinen Lerngruppen: bilingualer Unterricht, musikalische Früh-förderung, Kooperationen mit Sportvereinen u Wirtschaftsunternehmen
  • jede zehnte der 34.000 allgemeinbildenden Schulen in privater Trägerschaft – Tendenz ↑
  • im beruflichen Bildungswesen Anteil mit einem knappen 1/4 sogar noch höher: Großunternehmen wie Siemens AG unterhalten eigene Schulen, aber auch Kirchen
  • Blick ins Ausland lässt ahnen, dass der Privatschulboom in Deutschland seinen Zenit noch nicht erreicht haben dürfte: So besuchen in GB 36 % der Schüler (staatlich geförderte) Privatschulen, in Chile 48 %, in den Niederlanden sogar zwei Drittel
  • (p) Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG untersagt „Sonderung der Schüler nach Besitzverhältnissen der Eltern“ zwar an staatlichen Schulen u an privaten Ersatzschulen, nicht jedoch an privaten Ergänzungsschulen → immer mehr Ausnahmegenehmigungen für Ergänzungsschulen, so dass Grenzen zwischen Ersatz- u Ergänzungsschulen

 

(2)  Die Privatwirtschaft in der Schule: Unterricht aus der Marketingabteilung

 

These: Die lobbyistisch motivierte Einflussnahme auf Schulen durch privatwirtschaftliche Interessen hat ein unbekanntes Ausmaß erreicht. Immer häufiger geraten öffentlicher Bildungsauftrag und private Geschäftsinteressen in Konflikt. Wie in vielen anderen Gesellschaftsbereichen erleben wir auch im Bildungssektor eine schleichende Privatisierung.

 

  • Immer mehr UN, Wirtschaftsverbände, arbeitgebernahe Stiftungen sowie Industrie- u Handelskammern drängen in den einstigen „Schonraum“ Schule. Selbst etablierte Markenartikelhersteller scheuen nicht davor zurück, Sportfeste zu sponsern, Schulhefte mit Firmenlogos zu verteilen, Computer zu finanzieren oder überfällige Sanierungen von Schulgebäuden zu bezahlen. Sie betreiben damit die Kommerzialisierung der zu Neutralität verpflichteten pädagogischen Institution Schule – mittlerweile vor allem mit einer Vielzahl eigener Unterrichtsmaterialien.
  • unternehmerischer Einfluss aufgrund klammer kommunaler Kassen, aus denen die Ausstattung der Schulen finanziert werden muss. Sinkende Schulbuchetats, gedeckelte Kopierkontingente und die teilweise Preisgabe der Lernmittelfreiheit – immerhin eine Kernforderung der Revolution von 1848 – haben dazu geführt, dass der Anschaffungsturnus für Schulbücher systematisch ausgeweitet wurde.
  • GEW-Studie: Für 45 % der Schulen stellen Privatunternehmen die wichtigsten Kooperationspartner dar. Selbst etablierte UN wie die Allianz, die Deutsche Bank AG, die Deutsche Telekom AG, die Volkswagen AG oder die Daimler AG scheuen nicht davor zurück, kostenfreie Schulhefte mit Firmenlogos zu verteilen, Lehrerfortbildungen anzubieten o eigene Mitarbeiter in Schulen zu entsenden.
  • 16 der 20 umsatzstärksten deutschen UN bieten kostenlose UM an → fluten Schulen mit selektiven, tendenziösen u manipulativen Unterrichtsmaterialien
  • Werbebotschaften und Firmenlogos in Hausaufgabenheften, Schülerzeitungen, Stundenplänen, Turnhallenbannern u Zeichenblöcken – im Übrigen inklusive kostenloser Verteilung der Materialien an den Schulen. Ruft man sich in Erinnerung, welche gewaltigen Widerstände es lange Zeit gab – und glücklicherweise zum Teil noch immer gibt –, wenn LuL ihren SuS ihre persönlichen Meinungen oktroyieren, fragt man sich, warum die Kultusministerien nicht Alarm schlagen, wenn als Indoktrinationsinitiativen zu bezeichnende Netzwerke mit eigenen Unterrichtsmaterialien und Mitarbeitern in die Schulen drängen.
  • Die „Öffnung von Schule“ gegenüber unternehmerischen Einflüssen hat zu einer tektonischen Verschiebung der Akteurskonstellationen im Bildungssektor geführt: Gewinn- und Gemeinwohlorientierung prallen aufeinander. Denn nicht wenige der mehr als 1.000 Initiativen, die vorgeben, sich um die schulische Bildung verdient zu machen, speisen die Schulen mit selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien, um die Vor- und Einstellungen Heranwachsender zu prägen. Die Deutsche Bank, der Schokoladenhersteller Ritter Sport oder die Fast-Food-Kette McDonald‘s adressieren die einst neutrale Bildungsinstitution Schule aber nicht nur, um eine bestimmte Weltsicht zu vermitteln. Zugleich wollen sie ihre Produkte bewerben, ihr Image aufbessern, Kunden binden und Personal rekrutieren. Sie wissen, dass an Kinder gerichtete Werbung besonders effektiv ist. Bei Kindern muss nämlich nur ein Viertel des Budgets veranschlagt werden, um denselben Werbeeffekt zu erzielen wie bei Erwachsenen. Außerdem beeinflussen Kinder oftmals die Kaufentscheidungen ihrer Eltern und Großeltern.
  • Die privat-öffentlichen „Bildungs- und Lernpartnerschaften“ haben im Zeichen der „Öffnung von Schule“ ein historisches Ausmaß erreicht. So offenbarte die PISA-Studie 2006, dass 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchen, an der Industrie und Wirtschaft Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben. Dies grenzt im OECD-Vergleich an einen „Negativrekord“.
  • Die chronische Unterfinanzierung der Schulen stellt dabei das Haupteinfallstor für Werbemaßnahmen dar. Die Hoffnung der privaten Akteure, ihre Ideen schon bei den Jüngsten erfolgreich implementieren zu können, speist sich nämlich aus eben jener mangelhaften Finanzierung. → Reinhard Mohn (Gründer der Bertelsmann Stiftung) schon in 1990er-Jahren:

 

„Es ist ein Segen, daß uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.“

 

  • Besondere Gefahr geht von den Digitalkonzernen wie den Big Five – Apple, Amazon, Facebook, Google und Microsoft – aus, aber auch von Samsung.
  • absurd: Apple z. B. wird nun für seine Angebote aus Steuergeldern finanziert, obwohl das UN nach Schätzungen der EU-Kommission bis 2014 auf 1 Mio. Euro Gewinn durchschnittlich gerade einmal 50 Euro Steuern entrichtet haben soll. Und auch gegenwärtig versteuert Apple seine europäischen Gewinne nach Schätzungen nur mit 2 bis 9 %. → Auftragsvergabe an die Bedingung knöpfen, dass…
  • langfristige Abhängigkeiten für Wartung und Instandsetzung – und natürlich muss die IT-Infrastruktur auch regelmäßig erneuert werden.
  • Einspeisung von Inhalten, die Ihnen genehm sind: Die von der EU-Kommission eingeforderten Strafzahlungen aufgrund von steuer-, kartell- oder datenschutzrechtlichen Verstößen in den eingespeisten Unterrichtsmaterialien kaum thematisiert werden.

(p) Datenschutz

  • Beispiele für Unterrichtsmaterialien von Unternehmen
  • RWE bietet ein eigenes Theaterstück an, das den Titel „Hochzeit unter Strom“ trägt → beworben mit dem Slogan „Großes Energieabenteuer für kleine Theatergäste“
  • BMW: Frontschürze eines BMW nachzeichnen
  • Daimler: Berechnung der Größe von Fahrastzelle und Kofferraum
  • Thema Klimapolitik im Klassenzimmer: Energiebildung: Ökonomie mit Energie (EWE), aber Risiken des Fracking? –
  • In immer stärkerem Maße nutzen auch Lebensmittelhersteller das „Einfallstor Schule“, um Kinder und Jugendliche in ihren Kauf- und Ernährungsgewohnheiten zu prägen: insb. Hersteller nachweislich ungesunder Lebensmittel wie Nestlé, Dr. Oetker oder Kellogg‘s, aber auch die vom Getränkehersteller Capri-Sonne knapp 5 Jahre lang zum Einsatz gebrachte Unterrichtsmappe Fit, fair und schlau. Das für Grundschulen entwickelte UM suggeriert, mit Zucker gesüßte Getränke seien vitaminreich und stünden in der Ernährungspyramide auf der gleichen Stufe wie Wasser – verbunden mit dem Hinweis, dass man davon viel trinken solle. ↔ Kriterien des von der Bundesregierung geförderten aid Infodienstes in der Rubrik „Süßigkeiten und Fett“ an der Spitze der Ernährungspyramide mit der Empfehlung platziert, es nur sparsam zu verzehren. Zwar wird die Materialmappe nach heftiger Kritik der Verbraucherorganisation foodwatch inzwischen nicht mehr verbreitet. Mit einem eigenen Schwimmabzeichen werden die Jüngsten aber noch immer von dem Getränkehersteller umgarnt.
  • Auch das vom Fast-Food-Konzern Mc Donald’s im Jahre 2006 publizierte UM für die Primarstufe „Mit Verstand groß werden – richtig essen und bewegen“ zeigt, wie weit die Firmen mit ihrer Marketingstrategie gehen. Ähnlich wie Capri-Sonne hat auch der Fastfood-Riese ein eigenwilliges Verständnis von Lebensmittelkategorien. So weist ein Hamburger in dem TH dieselben Gütekriterien wie Obst auf. Im did. Kommentar des Materials heißt es:
  • „Auf dem Tisch liegen Obst, Bilder von verschiedenen Gerichten, Hamburger u Pommes. Die Kinder sollen nun einordnen, was davon unter ,Fast Food‘ fällt. Hier ist die Definition des Begriffes wichtig. ,Fast Food‘ ist alles, was schnell u aus der Hand gegessen werden kann – also zählt z.B. auch Obst dazu.“
  • Wenngleich das Material derzeit nicht mehr abrufbar ist, nutzt Mc Donald’s doch weiterhin zahlreiche andere Kanäle wie etwa die Beteiligung an der Bundesarbeitsgemeinschaft SCHULEWIRTSCHAFT oder die Vergabe des DFB & McDonald‘s Fußball-Abzeichens, um durch vermeintlich selbstloses Engagement für seine Produkte zu werben.

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(3)  Privatisierung der Hochschulen

 

  • Öffentliche Verlautbarungen: Bundesrepublikanische Universitäten sollen mit finanziellem Kraftakt an Weltspitze geführt werden → „viele deutsche Harvards“ | ABER: Hochschulen immer stärker genötigt, Gelder aus Privatwirtschaft einzuwerben
  • Privatunternehmen sponsern Hochschulen hierzulande inzwischen mit mehr als doppelt so viel Geld wie noch vor zehn Jahren: Tablets werden von Computerindustrie gesponsert, Hörsäle nach kapitalkräftigen Gönnern benannt o Professuren von Unternehmen gestiftet
  • Finanzielle Förderung kommt dabei schwerpunktmäßig den Studiengängen zu, die sich ökonomisch verwertbaren Forschungsgebieten widmen
  • Professuren in Sprach- und Kulturwissenschaften sowie in klassischen Philologien – 1/3 in den letzten 10 Jahren
  • 4 v. 5 privat finanzierten Professuren in den wirtschaftsnahen Bereichen Mathematik, Natur- u Ingenieurswissenschaften u Medizin → private Hochschulfinanzierung verschärft die Ungleichverteilung der Hochschulbudgets / UN werden dafür belohnt, wirtschaftsferne („bilanzschwache“) Fächer abzustoßen – und durch „leistungsstärkere“ zu ersetzen
  • Hochschulen werden nicht mehr allein nach der Zahl der Studierenden bezahlen, sondern die eingeworbenen Drittmittel gelten immer häufiger als Gradmesser für die Mittelzuflüsse
  • Diktat klammer öffentlicher Kassen → zahlreiche Hochschulen offen für Werbung v. UN → Verkauf v. Namensrechten hat nach Fußballbundesligastadien nun auch Hochschulen erreicht: Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt: Namensrechte für größten Hörsaal an Supermarktkette Aldi Süd | „Sparkassen-Hörsaal“ der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
  • Stiftungsprofessuren als besonders wirkmächtiges Instrumentarium des „Agenda-Settings“ an Hochschulen: Zahl hat sich seit 2010 auf mehr als 1.000 verdoppelt
  • Stiftungsprofessuren als „Trojanische Pferde“: 2 v. 3 der zunächst extern finanzierten Professuren werden anschließend in das reguläre Budget der Hochschulen übernommen
  • (p) Kooperationsvertrag zwischen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz u der aus dem Pharmakonzern Boehringer Ingelheim hervorgegangenen Stiftung (Thomas Leif): mit bis zu 150 Mio. Euro Fördergelder für Mainzer Spitzenforschung → maßgebliches Mitspracherechte bei der Berufung von Professoren
  • Hochschulräte (Aufsichtsgremien der Hochschulen): UN-Vertreter üben Einfluss aus: Jeder 2. Vorsitzende der Hochschulräte stammt aus einem Privatunternehmen: Daimler allein in Süddeutschland in zehn Hochschulräten vertreten
  • Transparenz in wissenschaftlichen Einrichtungen! Hochschulräte – : Forum Hochschulräte, das u. a. vom wirtschaftsnahen Stifterverband der deutschen Wissenschaft vom CHE gefördert wird, warnt vor öffentlichen Hochschulratssitzungen: „offene Meinungsaussprache“ könnte beeinträchtigt werden!
  • 100 private Hochschulen bundesweit: Bucerius Law School in Hamburg / EBS in Oestrich-Winkel / European School of Management and Technology in Berlin / erfolgreiche Frankfurt School of Finance & Management / Handelshochschule Leipzig / renommierte Hertie School of Governance in Berlin / Jacobs University Bremen / Steinbeis-Hochschule Berlin / Universität Witten/Herdecke / WHU – Otto Beisheim School of Management in Vallendar / die regelmäßig mit kreativen Annoncen aufwartende Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee
  • Primat des Privaten funktioniert längst nicht überall: So mussten viele private Hochschulen trotz hoher Gebühren u großer Versprechen in der Vergangenheit geschlossen werden: Adam-Ries-Fachhochschule in Erfurt (bis 2013), die CON Hochschule Berlin (bis 2010), die Fachhochschule Schwäbisch Hall (bis 2013), die International Business School of Service Management in Hamburg (bis 2013), die Internationale Hochschule Calw (bis 2011), die Private Fernfachhochschule Sachsen in Chemnitz (bis 2010) sowie die Private Hanseuniversität in Rostock (bis 2009) [„Schiffbruch an der Ostseeküste“]
  • Unterfinanzierung auch an öffentlichen Hochschulen: Verdopplung der Studierendenzahlen / nahezu gleich bleibende Zahl der Professuren (27.089)
  • Arbeitsbedingungen an den Hochschulen: 83 % der an bundesdeutschen Hochschulen beschäftigten Wissenschaftler sind befristet angestellt – ein Wert, der auch im internationalen Vergleich als einzigartig bezeichnet werden muss: Selbst in GB und USA genießt ein höherer Anteil der Forscher eine gesicherte Existenz.
  • marktwirtschaftliche Steuerung auf Professorenebene: seit 2005 W-Besoldung mit variablen Leistungsbezügen in Form von Berufungs- o. Bleibeleistungsbezügen mit befristeten o. unbefristeten, ruhegehaltfähigen o nicht ruhegehaltfähigen, dynamisierten o nicht dynamisierten Leistungszulagen → leistungsorientierte Bezahlung mit unerwünschtem Nebeneffekt: unzählige Berufungsverfahren platzen

 

¯

 

  • Bildungspolitische Forderungen

 

Wenn man aus einem passablen Bildungssystem ein sehr gutes Bildungssystem machen will, weil man daran glaubt, dass der Feind des Guten das Bessere ist, dann müssen mindestens 4  Forderungen in die Tat umgesetzt werden:

 

  • Nur dann, wenn Bildung konsequent als öffentliches Gut vorgehalten wird, kann niemand aufgrund fehlender finanzieller Mittel ausgeschlossen werden. Kostenpflichtige Bildungsangebote mindern die Bildungschancen und -aspirationen derjenigen, die nicht über die Mittel dafür verfügen.

 

Studiengebühren z. B. verschärfen soziale Selektion: In den USA entstammen 4/5 der Studierenden dem oberen 1/5 der Gesellschaft; in GB rekrutieren sich 2/3 der Studierenden aus dem oberen 1/3 der Gesellschaft.

 

Entstaatlichung, Rationalisierung und Kommerzialisierung sind keine Lösung für das öffentliche Gut Bildung. Mit jeder Privatisierung von Bildungseinrichtungen wird die im internationalen Vergleich ohnehin bereits hohe soziale Selektivität hierzulande weiter verschärft. ↔ Widerspruch zur allseits proklamierten „Bildungsrepublik“, die Menschen unabhängig von ihrer sozio-ökonomischen Herkunft Aufstiegs- u Verwirklichungschancen eröffnen soll

 

Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Verteilung der Bildungschancen nicht weiter vom Geldbeutel der Eltern abhängt. Begreifen wir Bildungspolitik wie die skandinavischen Staaten als beste Form präventiver Sozialpolitik, dürfen die politischen Zuständigkeiten nicht noch weiter zurückgedrängt werden.

 

  • Wenn wir uns wirklich als „Bildungsrepublik“ begreifen, muss die immer weitreichendere Instrumentalisierung von Schulen u Hochschulen als Orten der Werbung und des Sponsoring ein Ende finden. Es ist an der Zeit, dass die bildungspolitischen Entscheidungsträger den schulischen Allgemeinbildungsauftrag nicht länger privatwirtschaftlichen Interessen opfern, sondern die Schultore für dubiose Akteure schließen. Andernfalls drohen Schulen u Hochschulen zu „Werbeplattformen“ zu werden.

 

Das gilt auch und gerade mit Blick auf die Digitalisierung durch private Konzerne wie Apple, Microsoft und Samsung.

 

  • Wir können nicht auf Präsenzunterricht verzichten. Mimik und Gestik, Stimmung und Emotion sowie Freude können nur im Präsenzunterricht zur Geltung kommen. Online-Tutorials fördern weder soziale noch emotionale Kompetenzen.
  • Den Vorteilen einer zeit- und ortsflexibleren Bildungsstruktur im digitalen Zeitalter stehen die Risiken einer blinden Digitalisierungseuphorie gegenüberstehen.
  • Bildung ist nicht nur Spaß – zumindest dann nicht, wenn harte Brocken zu erarbeiten sind. Der Lustgewinn kommt, wenn es geschafft ist. Sicher­lich kann man Platons Höhlengleichnis, Kants kategorischen Imperativ oder Habermas’ Diskurstheorie auch durch YouTube-Clips nachvollziehen. Aber das medial Dar­gestellte ist natürlich nicht nachhaltiger als das mehrfach Gele­sene, mühsam Erarbeitete und dann im Unterricht Besprochene!

 

® Längst ist im einstigen „Schonraum Schule“ ein Kampf um die Köpfe der Kinder entbrannt, der die Unterrichtsqualität gefährdet und das auf Mündigkeit zielende emanzipatorische Bildungsverständnis aushöhlt. Je mehr Schulen sich für private Geschäftsinteressen öffnen und je mehr der Staat die Schulen dazu zwingt, weil er sie unzureichend finanziert, desto weniger wird die Schule ein Ort sein, an dem junge Menschen kritisches Denken und Handeln lernen.

 

  • Noch immer geben wir zu wenig Geld für Bildung aus. Rechnet man alles zusammen, hat Deutschland 2021 insgesamt 169,3 Mrd. Euro für Bildung ausgegeben: In die Schulen flossen 82,8 Mrd., in die Kindertagesbetreuung 39,5 Milliarden und in die Universitäten 33,9 Milliarden Euro.

 

  • Wenn wir ein Sondervermögen für die Bundeswehr im Umfang von 100 Mrd. Euro auflegen können, sollte dies auch für das Bildungswesen möglich sein, um endlich sicht- und spürbare Verbesserungen herbeizuführen. Für diese Forderung darf man sich in Erinnerung rufen, dass die weltweit besten Schulen über eigene Bibliotheken, Theater, Sportstätten und Gärten verfügen.
  • Die Lehrenden-Lernenden-Relation muss verbessert werden, d.h. wir brauchen mehr Lehrerinnen und Lehrer: 2025 werden allein an Grundschulen hierzulande mindestens 15.000 Lehrkräfte fehlen. Und schon jetzt sind die Betreuungsschlüssel an allen Schulformen ausbaufähig – erst recht, wenn man sich an erfolgreichen Bildungsnationen wie Finnland oder Schweden orientiert. Während Berlin und Hamburg rund 10.000 Euro pro Schülerkopf ausgeben, sind es in Nordrhein-Westfalen nur 6.800 Euro. Die gerade auch im internationalen Vergleich niedrigen Ausgaben für das Schulsystem sind der zentrale Grund, warum Bildungschancen hierzulande nach wie vor in besonderer Weise vom Sozialstatus der Eltern abhängen. Privatschulen sind auch deshalb so begehrt, weil sie Ganztagsunterricht in Lerngruppen mit einem Dutzend Schüler anbieten, während sich an staatlichen Gymnasien in der Sekundarstufe I durchschnittlich 26 Lernende pro Klasse zusammenfinden.

 

  • Das unstillbare Verlangen nach praxistauglichem Wissen darf nicht zu einer Abkehr vom schulischen Allgemeinbildungsanspruch führen.
  • Dem unstillbaren Verlangen nach einer unmittelbaren Verwertbarkeit ihrer Bildungsanstrengungen (Stichwort: Praxisrelevanz) darf nicht weiter nachgegeben werden, denn Schulen sind unverändert einem Allgemeinbildungsanspruch verpflichtet, das heißt der interessenfreien und theoriegeleiteten Generierung und Verbreitung von Wissen.
  • Obschon der Ruf nach mehr beruflicher Orientierung in Schulen immer lauter wird, müssen wir mit Blick auf die Obsoleszenz von Wissen ein ehernes Gesetz beherzigen: Die Geschwindigkeit, mit der Bildungsinhalte veralten, korreliert positiv mit ihrer Praxisnähe und negativ mit ihrem Abstraktionsniveau, das heißt je enger Gelerntes an die Praxis angebunden ist, desto schneller veraltet es. Abstraktes und womöglichgar zeitloses Wissen hat folglich einen Wert an sich, den es gegen ökonomisch motivierte Interessen, denen Schülerinnen und Schüler allzu häufig unbewusst oder zumindest unreflektiert unterliegen, zu verteidigen gilt.

 

2 Gedanken zu “Vortragsmanuskript: Schöne neue Bildungswelt? Die Privatisierung von Bildung. Mit Prof. Dr. Tim Engartner”

  • Ein sehr interessantes Thema, dass seit Jahren in Kreisen der Elternarbeit kursiert. Gibt es die Möglichkeit einen Mitschnitt der Diskussion als Download zu bekommen, und wenn ja, wo?

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