„Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiräume, eigene Ideen zu entwickeln und kreative
Unterrichtskonzepte zu erproben. Sie brauchen Gelegenheiten für den Austausch und für
die gemeinsame Arbeit im Team. Nichts ist schlimmer als diese Kultur in Deutschland, dass
man die Tür zum Klassenzimmer zumacht – und den Lehrer dort einfach nur alleinlässt.
Und vor allem: Lehrkräft e brauchen, so ungewohnt es für viele in Deutschland klingt, auch
Zeit für anderes, als immer nur zu unterrichten.“
sagt OECD-Bildungsorganisator Andreas Schleicher in einem Interview in der Stuttgarter Zeitung vom 19. Januar 2024. In Deutschland hätten die Lehrer und Lehrerinnen zu wenig Gelegenheit, das zu tun, wofür sie den Beruf ergriffen haben, nämlich „jungen Menschen zu helfen, ihren Weg zu finden“. Sie brauchen mehr Freiräume, müssen anderes tun können als nur zu unterrichten. Darin sieht Schleicher den Weg, mehr Menschen für diesen Beruf zu gewinnen, und weniger in Gehaltssteigerungen. Dem kann ich nur zustimmen. Nicht so die Lehrerverbände, GEW und VBE. Sie sehen darin den Vorwurf „mangelnde(r) Innovations- und Teamfähigkeit sowie unzureichende(r) Eigeninitiative“, so Maike Finnern in ihrer Pressemitteilung. Mag sein, dass Maike Finnern nachziehen wollte, nachdem der VBE harsche Kritik geübt hatte.
Schleicher übt völlig zu Recht Kritik am deutschen Schulsystem, an der systemisch vorgegebenen Art der Lehrkräftetätigkeit. Man könnte so weit gehen und es den Lehrkräften als persönliches Versagen vorwerfen, dass sie sich in den vorgegebenen Rahmen einfügen und nicht einfach das tun, worin sie – und Schleicher – ihren Beruf sehen. Das tut Schleicher aber explizit nicht. Bedauerlich, dass die Verbände der Lehrkräfte nicht dessen Kritik am Schulsystem aufgreifen und daran mitwirken, ein anderes Verständnis der Arbeit zu entwickeln, was sowohl den Schüerinnen und Schülern als auch den Erwartungen angehender Lehrkräfte besser gerecht wird, im Sinne Schleichers.
Karl-Heinz Heinemann, das ist meine persönliche Meinung.
Kommentar von Martina Seifert:
Ich finde, dieser Kommentar zu Schleichers Ausführungen ist absolut gerechtfertigt. Schleicher trifft mit seiner Kritik den Punkt: Es fehlt den LehrerInnen an Zeit, die notwendigen Transformationen auszuüben und die Gewerkschaften und Verbände ergehen sich in Lohnkämpfen, anstatt z.B. die Arbeitszeiten und die nicht vorhandenen Teamzeiten in den Blick zu nehmen. Kürzlich sagte mir eine junge Lehrerin, die noch in der Probezeit ist: „Ich brauchen nicht mehr Geld. Ich brauche Zeit, um sytematisch mit meinen KollegInnen zusammenarbeiten zu können, um Unterstützung zu finden für diese herausfordernde Aufgabe, die der Beruf gerade an einer Schule mit Sozialindex 7 in NRW mit sich bringt. Ich brauche Zeit, um meine Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Dann bleibe ich gesund. Geld hilft mir dabei eher weniger!“ Wo ich mit Schleicher einen Dissenz habe, ist die Stelle, als er in einem im Sommer 2023 geführten Interview sagte, man solle nicht auf die Bildungsadministration / die Politik warten. Die KollegInnen müssten die Dinge schon selbst in die Hand nehmen. Hier widerspreche ich entschieden und genau hier wäre die Aufgabe z.B. der GEW entsprechend der oben ausgeführten Punkte, Forderungen aufzustellen und die Politik zu konfrontieren. Und noch eins: es wird überhaupt nicht verstanden, dass es sich bei dem Lehrberuf um einen politischen handelt. Die Forderung nach „der unterrichtlichen Berücksichtigung des Lerninhalts Demokratie als Zusatz zum existierenden Fächerkanon“ in NRW ist insofern irritierend, weil die Präambeln des Schulgesetzes und jeglicher Kernlehrpläne genau diesen Anspruch der Demokratiebildung ausweisen. Wieso gibt es also diesen Rechtsruck in der Gesellschaft, wo doch alle Schule durchlaufen haben? Antwort: Schule mit Fächern, Noten, nach vorna ausgerichteten autoritären Klassenzimmern / Gebäuden ist ein durch und durch demokratiefeindlicher Ort. Demokratiebildung unter einer verschulten herkömmlichen Dramaturgie umzusetzen, ist zum Scheitern verdammt. Es wäre an der Zeit, grundsätzlich über Schule und Bildung nachzudenken. Und auch hier macht Schleicher den Punkt: Die Demokratie stirbt dann, wenn der Politik das „Liefern“ und den BürgerInnen das „Konsumieren“ zugewiesen wird. Genau das passiert in Schule: da stieren die KollegInnen auf die Schulleitungen und ergeben sich in einem Gefühl der Ohnmacht. Streng nach Magerete Mitscherlich, die einem „jammernden“ Menschen in einer Veranstaltung entgegenhielt: „Sie machen es sich zu einfach.“