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Input zur RLS-Tagung „Ökonomisierung von Bildung“, 1.3.19

 

Einleitung

Ziel des Inputs ist eine problemorientierte und bildungspolitische Einordnung von Ökonomisierung,

Ich möchte deutlich machen, in welcher Weise man von Ökonomisierung als „Form der Bildungsreform“ sprechen kann

Das mag etwas verwundern, da mit Ökonomisierung vor allem der direkte ‚Zugriff‘ der Ökonomie auf die Bildung verbunden wird, also nicht davon ausgegangen wird, dass

‚Ökonomisierung‘ ein Mittel der Bildungsreform sein könne

Es zeigt sich aber, das es Staat und Politik sind, die in den 1980er/90er zum Zweck der eigenen Modernisierung auf Elemente von Markt ,Wettbewerb und Privatisierung im Zuge der Globalisierung zurückgegriffen haben

Und auch nur der Staat ist die einzige legitime Instanz, um gesellschafts- und bildungspolitisch entsprechende Reformen durchzusetzen

Statt eines großflächigen Überblicks zur Ökonomisierungsforschung, den ich mit diesem Input nicht leisten kann – und auf die vorliegende Studie verweise –, möchte ich die ökonomische bzw. ökonomisierende Ausrichtung der aktuellen Reformen und deren Effekte im Rahmen an einem Beispiel vertiefend deutlich machen und mit Ihnen diskutieren

Das Beispiel  Veränderung des Autonomiebegriffs und seine neoliberale Reformulierung seit Mitte der 1990er Jahre

Warum Autonomie? Autonomie stellt einen ganz zentralen Begriff der aktuellen Bildungsreformen dar + sehr starkes Legitimationspotential + bekanntermaßen auch einen wichtigen pädagogischen Begriff

Zudem möchte ich zeigen, das Ökonomisierungsprozesse mit wichtigen normativen Umwertungen und institutionellen Veränderungen einhergeht

Zugrunde gelegt wird ein weiter Ökonomisierungsbegriff, der die die institutionellen und normativen Veränderungen berücksichtigt (Erwartungen der Akteure, Wissen usw.)

 

2 unterschiedliche Reformen – 2 unterschiedliche Ökonomien

Bildungsreformen stellen historisch und systematisch immer eine Form der Rationalisierung von Bildung dar, die entweder mehr staatlich-bürokratisch oder stärker ökonomisch akzentuiert sein kann

Rationalisierung  eine Steigerung von Kontrolle, Technologisierung und Disziplinierung, also eine Expansion zweckrational-instrumenteller Logiken (Effizienz, Effektivität)

Die Bildungsreform der 1960er Jahre waren gegenüber den aktuellen sozusagen ‚breiter aufgestellt‘

Koppelung von zweck- und wertrationalen Bezügen in dieser Reformperiode

Bildung als Bürgerrecht (politisch) + egalitären Zielsetzungen (gesellschaftlich, Chancengleichheit) + Mobilisierung von Bildungsreserven (ökonomische Motive)

In dieser Reform 1960er Jahre wird eine ‚Ausgewogenheit‘ der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansprüche und Funktionen des Bildungsfeldes deutlich: Die egalitär- integrativen Ambitionen und die meritokratisch-selektiven Ansprüche von Bildung werden miteinander   vermittelt      und   sie   werden   als   (antagonistische)   Konflikt   sichtbar und bildungspolitisch ausgetragen

Dies macht die grundlegende Struktur des Bildungsfeldes deutlich

Denn im Bildungsfeld verdichten sich also elementare gesellschaftliche Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften und es zeigt sich – so Claus Offe –

„(…) wie der Staat ein kontrafaktisches Erscheinungsbild von Chancengleichheit und damit von der Klassen-Neutralität seiner eigenen Funktionen zu produzieren sucht, während doch gleichzeitig sozialer Status und Lebenschancen der Individuen an die Bewegungen einer profitgesteuerten Ökonomie gebunden bleiben. Weil die ideologischen Systemprämissen  einer egalitären Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur weder offen fallengelassen noch aber im ökonomischen System selbst eingelöst werden können, übernimmt außerhalb der marktgesteuerten Verwertungsprozesse, aber zugleich in Abhängigkeit von ihnen, das öffentliche Bildungssystem die Funktion der Versöhnung dieser kontradiktorischen Bedingungen durch eine formelle Politisierung der gesellschaftlichen Verteilung von Sozialstatus und Lebenschancen“ (Offe 1975: 241)

Der Kern des Bildungsfeldes, den man in Anschluss an Bourdieu als Bildungsnomos (vgl. Studie, S. XY) beschreiben kann, ist grundlegend antagonistisch-widersprüchlich

Die Spannung von Egalität, Selektion, Allokation (sozial-distinktive Platzierung, Positionierung im Berufssystem), Normenintegration/Sozialisation sowie individueller Autonomie und Emanzipation

Diese heterogenen Funktionen begründen die relative Autonomie des Bildungsfeldes und müssen in gewisser Weise bildungspolitisch zwischen den verschiedenen Interessengruppen (Unternehmen,                             Eltern,    Politik,   Zivilgesellschaft   usw.)   austariert     werden,    um    auch Legitimationsfunktion erfüllen zu können (z.B. gerecht zu differenzieren und auszusortieren) Zugleich ist diese relative Autonomie immer auch immer prekär und läuft Gefahr, vereinseitigt zu werden

Hierin liegt der Anschluss an die gegenwärtige Reform  Denn gegenüber der Reform der 1960er Jahre (‚Ausgewogenheit‘ der Ansprüche/Funktionen) zeichnet sich die aktuelle Reform durch eine ökonomische Vereinseitigung aus, die mit dem Ökonomisierungsbegriff angezeigt wird

Damit gerät das austarierte Verhältnis in eine gewisse Schieflage

 

Ökonomische Rationalisierung

Worin besteht nun die Spezifik der gegenwärtigen Reformphase der Ökonomisierung bzw. ökonomischen Rationalisierung?

Vergleicht man nämlich die beiden Bildungsreformperioden der 1960er und 2000er Jahre, so wird deutlich, wie sich die deren ökonomische Logik unterscheidet

Dominierte die input-orientierte Bildungsökonomie im Kontext des Arbeitskräftebedarfsanalysen über mehrere Jahrzehnte in den 1960er Jahren,  also  eine makroökonomische Sicht auf Bildung + Qualifikation, so zeigt sich in den aktuellen Reformen die mikroökonomische Logik bzw. Ökonomik  output- orientierte Unternehmenssteuerung und strategisches Management

Etablierung von zwei neuen Leitbildern

  1. das Unternehmen und dessen managerial-strategische Leitung wird zum universellen Leitbild für alle anderen Organisationen (Gesundheit, Bildung, Religion, Sport)
  2. auf der individuellen Ebene  Selbst-Unternehmer (Bröckling) als Kombination aus klassischem homo oeconomicus und dem individuellen Humankapitalisten  Humankapitaltheorien der 1960er Jahre („ökonomischer Imperialismus“)

Einen nachhaltigen Rationalisierungsschub erfährt diese doppelte ökonomisch motivierte Individualisierungslogik (Organisation, Individuum) auch durch den wissenschaftlichen Mainstream einer unkritischen Governanceforschung  gesellschaftliche Widersprüche im schulischen Feld werden in Steuerungsprobleme umdefiniert

z.B. Schulen als Principal-Agent-Konstellationen  Import von Figuren aus der neuen Institutionenökonomik  im Handbuch Neue Steuerung/Governance

Übergreifende politische Kontext  Transformation von Staat und Politik seit den 1980er Jahren

Es wurde eine ökonomische Modernisierung von Bürokratie und Verwaltung vollzogen (NPM), die mit radikalen Einschnitten im arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Bereich einherging sowie mit einer Welle der Privatisierung von Gütern der öffentlichen Daseinsvorsorge:

„Anfang der 1980er Jahre begannen Regierungen in fast allen westeuropäischen Ländern verstärkt Aufgaben zu privatisieren, ihren Personalbestand abzubauen, einzelne Verwaltungseinheiten zu verselbständigen, den öffentlichen Sektor unter verstärkten Markt- und Wettbewerbsdruck zu setzen und Managementkonzepte aus dem Privatsektor in die staatlichen Behörden zu übertragen“ (Oschmiansky 2010, https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/55048/steuerung- modernisierung?p=all)

Dieses Muster ökonomischer Rationalisierung und Modernisierung – also NPM, Privatisierung, Vermarktlichung und Wettbewerbsorientierung – findet sich seit den der zweiten Hälfte auch im Feld der Schule wieder

Mit etwa 20 Jahren Verzögerung, mit Hilfe der OECD und PISA als Katalysator dieser Entwicklung hat die Neue Steuerung mit ihrem prototypischen Begriffsarsenal wie Evaluation, Output, Steuergruppen, performance-Orientierung usw. unumkehrbar Einzug in die Schule gehalten

Diese historische Rekonstruktion zeigt zweierlei:

  1. ökonomische Erwägungen und Zielsetzungen haben bei Bildungsreformen neben anderen Motiven auch immer eine Rolle gespielt (auch im 19. Jahrhundert bei der Organisation der höheren Bildung)
  2. Die betriebswirtschaftliche Ökonomik/Mikroökonomie wurden seit den 1990er Jahren zu zentralen Mittel der neoliberalen Modernisierung von Staat und Politik
  3. Liberale Leitbilder von Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung werden hierbei managerial umformuliert

An den Veränderungen des zentralen Reformbegriffs „Autonomie“ möchte ich seine Umdefinition in einen ökonomisch ausgerichteten Begriff aufzeigen

 

Verlust oder Zugewinn an Autonomie?

Einer der zentralen, wenn nicht der zentrale Leitbegriff der aktuellen Reform lautet Autonomie – und er steht nicht umsonst im Zentrum des neuen Bildungsreformdiskurses Schulautonomie  ein Diskurs, der seit Mitte der 1990er Jahre explosionsartig zugenommen hat

2 wichtige Punkte im Autonomiediskurs

  1. Festschreibung von    Schule    als    organisationaler      Akteur         mit     eigener organisationalen rationalistischen Handlungslogik (Individualisierung)
  2. Wechsel von der Einzelschule als „pädagogische Handlungseinheit“ (Fend) zur Schule als ‚ökonomischer/ökonomisierter Handlungseinheit‘

Ad 1 .‚Organisation’ wird aufgewertet gegenüber ‚Interaktion’ und ‚Profession’

Jetzt wird nicht mehr in der Schule gehandelt oder Unterricht gehalten, sondern die Schule selbst wird als ökonomische Handlungseinheit deklariert

Damit    wird    suggeriert,     das     Schule     sich    im     Wesentlichen     durch     eine

Handlungsrationalität, nämlich der Erfolgsorientierung auszeichne

Abgedunkelt werden hierbei die vielfachen erzieherischen, bildungsorientierten, qualifikatorischen und integrativen ‚Rationalitäten‘, die Schule hat – die sich zum Beispiel in Konflikten in der Schule ausdrücken

Diese    werden     aber     im     neuen     Steuerungsregime     zum    Gegenstand     von

 

Schulentwicklung            ‚Organisationsentwicklung‘ aus      dem Bereich      der
unternehmerischen               Organisationsberatung mit Teambuildung,
Empowermentstrategien,      Kommunikationstraining,

Erfolgsorientierung

Profilbildung usw.    für    die

 

Beispiel für die Schule als ökonomischer Organisation  Wolfgang Böttcher

„Ökonomie der Organisation und Neue Bildungsökonomie“ (Böttcher 2002: 72)

Schule als „produzierende Einheit“, mit „Produktionszielen“ und einer „inneren Ökonomie“ (ebd.)  Management und betriebswirtschaftliche Perspektive (73)

Böttcher kritisiert die ökonomieaverse Pädagogik  „feindliche Übernahme der Pädagogik durch die Ökonomie“

Definition von Organisationen: „Organisationen sind Ziele anstrebende soziale Gebilde. Die Bedeutung der Leistungsdimension für die Analyse einer Organisation verweist auf den ökonomisch-rationalistischen Kern dieses sozialen Gebildes“ (74)

„Ökonomischen Bildungsreform“ mit den vier Merkmalen (= „4 E“):

Effektivität, Effizienz, Evidenz, Erfolgsorientierung (10) (APuZ 2005: 9 ff.).

Frage  Abschaffung pädagogischer Autonomie im Zeichen eines ökonomisch orientierten Autonomiekonzepts?

Eine meiner Thesen lautet, dass der Kampf um Autonomie und deren Neubestimmung im Feld der Bildung ein ganz neuralgischer Punkt der aktuellen Reformen darstellt 

Beobachtung  mikroökonomische Verschiebung im Bildungsnomos

Folgen für Professionsvorstellungen  manageriale Reorganisation  organisationale Ansprüche wie Profilbildung, Distinktion, Performance werden zunehmend auch an LehrerInnen und ihre Art des Unterrichtens adressiert, die ihr Kerngeschäft nun anpassen müssen

Unterricht wird Class-Room-Management

Außerdem wird die gesamte Organisation Schule mit normativen Vorstellungen von kontrollierbaren Effizienz und Effektivität überzogen

neoinstitutionalistisch formuliert, es erzeugt Effizienz- und Effektivitätsmythen

Dies entwertet klassisches professionelle Wissen um die Grenzen und die Kontingenz pädagogischer Praxis  Technologiedefizit

Statt dessen  Prinzip des Erfolgs auf der Unterrichtsebene

Das Problem: Durch das neuerliche Effizienz-/Effektivitätsversprechen wird dem weithin verunsicherten schulischen Feld (nach PISA) nun ein Angebot gemacht, sich legitimatorisch durch neue evidenzbasierte Technologien aufzuwerten, zielsicher zu handeln und dadurch (vermeintlich) Autonomie zu gewinnen

Soweit mein Fallbeispiel eines ökonomisierten Autonomiebegriffs

Ökonomisierung als Forschungsfeld

Ökonomisierung beschreibt eine komplexe politisch-institutionelle Transformation des Bildungsfeldes in Richtung des Ökonomischen

Dies ist für einen marxistisch-ideologiekritischen Betrachter ein relativ unspektakuläres Ergebnis, denn Bildung im Kapitalismus ist gleichsam schon immer ökonomisiert, auf Mehrwertproduktion und ökonomische Vernutzung des Einzelnen ausgerichtet

Unbeachtet bleibt dabei allerdings die widersprüchlich-überdeterminierte Struktur des Bildungsfeldes (Bildungsnomos)  sie ist konstitutiv und notwendig, damit es überhaupt

seine gesamtgesellschaftlichen Funktionen einschließlich der  wichtigen Legitimationsfunktion erfüllen kann

In gewisser Weise muss also – das wäre die Annahme – der Bildungsnomos unter ökonomisierten Bedingungen erhalten werden, um die relative Autonomie und die Funktionsfähigkeit des Feldes zu gewährleisten

Wäre das Bildungsfeld vollkommen ökonomisiert, also profitorientiert oder privatisiert, dann würde dies zu einer nachhaltigen Schwächung oder Neutralisierung der anderen Funktionen führen  und die gesellschaftlichen Effekte wären politisch möglicherweise nicht mehr zu kontrollieren

Aber – dies zeigt die Ökonomisierungsforschung: Es gibt weltweit kein durchökonomisierte Bildungssystem, sondern nur Mischsysteme von öffentlich/privaten Institutionen

Das macht auch deutlich, dass – wie eingangs betont – Ökonomisierung im Bildungsfeld nur unter der Bedingung staatliche Regulation realisierbar ist

 

Einige Forschungsfelder und Perspektiven der Ökonomisierungsforschung

  • Internationale Vergleiche zeigen eine hochgradige Ähnlichkeit der Bildungsreformen in den OECD-Ländern nach 2000 durch Neue Steuerung (Outputorientierung, Standardisierung, Tests, Evaluation, Ranking)
  • Etablierung von Quasi-Märkte (freie Schulwahl) und Formen direkter gewinnorientierter Vermarktlichung  Märkte für Tests, Aufnahmeprüfungen, Bildungsmaterialien, Nachhilfe  also ein Markt für Bildungsdienstleistungen
  • Nachhaltige Expansion von Privatschulmärkten  seit Mitte der 1990er Jahre
  • Zunehmender bildungspolitischer Einfluss privater Akteure im Bildungsfeld (z.B. Stiftungslehrstühle, Schulsponsering, Kooperationsprojekte mit Stiftungen wie ‚Kommunale Bildungslandschaften‘, PPP

LehrerInnen-/SchulleiterInnen-Fortbildung,        d.h.        Outsourcing        von        staatlichen Lehrerbildungsaufgaben

  • Steigerung der Bildungskosten privater Haushalte  Gebühren für KITAS, Privatschulen, private Universitäten, Abschaffung der Lehrmittelfreiheit in vielen Bundesländern
  • Verkürzung und Intensivierung von Lernzeiten und Vermittlungswissen (‚ökonomisierende Verdichtung‘)  G 8,

 

Modularisierung  Lernzeitverdichtung und Segmentierung von Wissen Ökonomisches Wissen oder Sozioökonomisches Wissen

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