Zweigliedrigkeit als Weg zur einen Schule für alle?

Wie kann der Weg zur einen Schule für alle gelingen? Ist die Zweigliedrigkeit ein erster Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit oder verfestigt ein Zwei-Säulen-Modell die soziale Ungleichheit sogar noch stärker als die Mehrgliedrigkeit? Am Samstag, 10.04., haben wir darüber bei einer Online-Tagung mit drei spannenden Referent*innen und Menschen aus der schulischen Praxis, aber auch aus der Bildungspolitik diskutiert.

Leistungen der Schüler*innen verbessern sich

Den Anfang macht Robert Giese aus Berlin. Er leitet eine Schule, die schon lange anders organisiert ist als die meisten anderen: Die Fritz Karsen-Schule in Berlin, benannt nach einem frühen Kämpfer für Bildungsgerechtigkeit und dem Mitbegründer des Bundes Entschiedener Schulreformer. Seit der Gründung des Bundes sind über 100 Jahre vergangen und doch hat das deutsche Schulsystem sich, zumindest strukturell, nur wenig verändert. Mehrgliedrigkeit ist in Deutschland immernoch die Norm und gesellschaftliche Ungleichheit wird heute mehr denn je durch Bildungsunterschiede legitimiert. Die Fritz-Karsen-Schule versucht, dem ungerechten Normalzustand an den Schulen etwas entgegenzusetzen und zeigt so, dass Schule ganz anders sein könnte.  An der FKS werden Schüler*innen von Klasse 1-13 unterrichtet, in den Klassen 1-3 und 4-6 findet der Unterricht jahrgangsübergreifend statt. Sitzenbleiben gibt es nicht, dafür ein Ganztagskonzept und demokratische Mitbestimmung am Schulleben sowohl für die Schüler*innen als auch für die Lehrkräfte. Lernentwicklungsgespräche finden nicht nur mit den Eltern, sondern auch den Schüler*innen statt. Sie bereiten sich darauf vor und stellen zuerst ihre Selbsteinschätzung dar: Was ist ihr Stand und wo wollen sie sich weiterentwickeln? Die Schule hat sich verpflichtet, auf äußere Differenzierung zu verzichten. Das bedeutet: Kinder mit Hochbegabung oder geistiger Behinderung werden in einer Klasse unterrichtet, bei einer Klassenstärke von durchschnittlich 25 Kindern. Das kann nicht funktionieren? Doch, kann es. Die FKS ist eine von mittlerweile 27 Gemeinschaftsschulen in Berlin, die nach einem erfolgreichen Pilotprojekt 2008 gezeigt hat, dass sich die Leistungen der Schüler*innen nicht etwa durch das gemeinsame Lernen verschlechtern, sondern vielmehr verbessern. Eine der Projektschulen, die Wilhelm-von-Humboldt-Schule, konnte sogar den besten Abijahrgang Berlins vorweisen, eine andere Gemeinschaftsschule gewann den Deutschen Schulpreis. Die Lehrer*innenbildung bereitet nach wie vor nicht auf wirklich inklusives Arbeiten vor, viel sei „learning   by doing“, berichtet Giese. Dennoch ist er überzeugt: Eine Gemeinschaftsschule wie die FKS ist das Modell der Zukunft.

Gymnasium inklusiver machen oder lieber ganz abschaffen?

Während an den Gemeinschaftsschulen und den Sekundarschulen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf inkludiert werden, sehen die Gymnasien Inklusion bisher größtenteils nicht als ihre Aufgabe an. Sollen wir von den Gymnasien erwarten, dass sie sich diesen Schüler*innen öffnen oder eher die Unfähigkeit der Gymnasien kritisieren, den Anforderungen der Inklusion gerecht zu werden? Das wurde von den Teilnehmenden kontrovers diskutiert. Im Zentrum steht die Frage, ob es eine Strukturdebatte braucht, oder ob es reicht, die pädagogische Arbeit in den einzelnen Schulen zu verbessern –  unabhängig davon, was über der Schule drübersteht, wie es El-Mafaalani in unserem Gespräch vom 22.02. formuliert hat. Dass über die Schulstruktur gesellschaftliche Ungleichheit legitimiert und durch Bildungsunterschiede begründbar wird, ist seit Langem bekannt. Doch kann man über die Schulstruktur wirklich die Gesellschaft verändern? Ist das Gymnasium eine per se exludierende Schule, die es im Interesse der Kinder hin zu einer Schule für alle zu überwinden gilt, oder kommt es nicht so sehr auf die strukturellen Folgen, sondern eher auf gute pädagogische Arbeit im Einzelnen an?

Zweigleidrigkeit in Bremen – eine Sackgasse?

Johannes Bock, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Bildung, Wissenschaft, Kultur, Medien, Datenschutz und Informationsfreiheit in der Linksfraktion, berichtet aus Bremen über die Erfahrungen mit der Zweigliedrigkeit. Ausgangspunkt für die bildungspolitischen Veränderungen in Bremen war der sogenannte „PISA-Schock“ Anfang der 2000er Jahre: Während die Lernergebnisse in Bremen besonders schlecht sind, ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg besonders stark. Das Gymnasium wird immer beliebter, Real- und Hauptschulen drohten zu „Restschulen“ zu werden. Dazu kommt die Debatte um Inklusion. Eine starke Bremer Elterninitiative fordert ein Ende der Sonderschulen und eine gemeinsame Beschulung aller Kinder. Hatten SPD und Grüne im Wahlkampf noch eine Schule für alle beziehungsweise eine Gemeinschaftsschule angekündigt, wurde nach der Wahl letztendlich ein Zwei-Säulen-Modell eingeführt. Neben dem Gymnasium gibt es in Bremen seither nur noch eine andere Schulform, die Oberschule. Der „Bremer Konsens zur Schulentwicklung“ von 2008 garantierte nach Einführung der Oberschulen einen Reformstopp für die nächsten 10 Jahre. 2018 hat dann auch Die Linke einer Verlängerung zugestimmt, auch wenn die Zweigliedrigkeit innerhalb der Fraktion sehr umstritten ist. De facto sind die Bremer Oberschulen integrierte Gesamtschulen. Klassisches Sitzenbleiben gibt es nicht mehr, Kinder können eine Schule nur auf Antrag der Eltern wieder verlassen. In der Diskussion kommt jedoch die Vermutung auf, dass sich die Gymnasien durch gezielte „Beratung“ der Eltern unliebsame Schüler*innen trotzdem vom Leib halten könnten. Bock berichtet jedoch, dass es bisher keine Beschwerden von Eltern über eine solche Praxis gibt. Zwar kann man an beiden Schulen Abitur machen, einige Unterschiede gibt es zwischen Oberschule und Gymnasium aber durchaus: Während die Oberschulen auf verschiedenen Leistungsniveaus binnen- und außendifferenziert unterrichten und an der 9-jährigen Schulzeit festhalten, gibt es am Gymnasium zumindest offiziell nur ein Leistungsniveau und eine auf 8 Jahre verkürzte Schulzeit. Die Klassen sind dafür mit 30 Kindern größer als die Oberschulklassen mit durchschnittlich 25 Kindern. An den Grundschulen gibt es durchschnittlich 24 Kinder pro Klasse und keine regulären Ziffernnoten. Laut Schulgesetz sollen sich alle Schulen zu inklusiven Schulen entwickeln, Förderzentren werden aufgelöst, Ausnahmen gibt es für Seh- und Hörschädigungen sowie Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen.

Noch weit entfernt von einer Schule für alle

Nach 10 Jahren „Schulfrieden“ und Zweigliedrigkeit zieht Bock eine eher ernüchternde Bilanz: Zwar gebe es ein konstantes Anwahlverhalten für die Oberschulen und auch der Inklusionsgedanke werde mittlerweile generell akzeptiert. Dennoch drohen besonders die Oberschulen ohne eigene gymnasiale Oberstufe zu „Restschulen“ zu werden, und die finanzielle Ausstattung für eine Umsetzung der Inklusion ist bei weitem nicht ausreichend. Es gibt keine allgemeine Leistungssteigerung, auch die Bindung von sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung bleibt ungebrochen stark. Von den Zielen, die mit einer Schule für alle verbunden werden, bleibt Bremen also noch weit entfernt. War es also richtig, den „Schulfrieden“ um weitere zehn Jahre zu verlängern? Ja und Nein, sagt Bock. Die Oberschulen als inklusiv arbeitende, integrierte Gesamtschulen seien beliebt, sie zu erhalten daher politisch richtig. Die soziale Spaltung entstehe nicht primär über die Schulen, sondern über die sozial gespaltenen Stadtteile. Allerdings wurde durch die Zweigliedrigkeit auch das Gymnasium in seiner Position gefestigt. Weitere Reformschritte hängen von der CDU ab, die finanziellen Zusagen bezüglich der Inklusion sind aufgrund des engen Haushaltsrahmens nicht einlösbar. Während Die Linke in Bremen weiterhin am Ziel der einen Schule für alle festhält, bleibt bis 2028 erst einmal alles, wie es ist.

Bildungsungerechtigkeit in Hamburg fortgesetzt

Auch in Hamburg gab es bildungspolitische Veränderungen auf dem Weg zu einer Schule für alle. Zugespitzt formuliert zeigt sich hier: Die Zweigliedrigkeit ist kein Weg zur einen Schule für alle, sondern eine Sackgasse. Sabine Boeddinghaus, Fraktionsvorsitzende und Fachsprecherin für Bildung und Schule, Familie und Jugend berichtet von der Entwicklung in Hamburg. Hier wurde 2010 ein Zwei-Säulen-Modell eingeführt, aber eine grundsätzliche Strukturdebatte blieb aus, das Elternwahlrecht erhalten, ebenso die Primarstufe nur bis Klasse 4. Zuvor hatte nämlich eine Elterninitiative unter dem Slogan „Wir wollen lernen“ erfolgreich verhindert, dass die Grundschüler*innen bis Klasse 6 gemeinsam lernen können. Der Hamburger Volksentscheid, den diejenigen für sich entscheiden konnten, die ihre Privilegien wahren wollen, hat die Bildungspolitiker*innen in Hamburg tief verunsichert und, wie in Bremen, zu einem „Schulfrieden“ genannten Reformstopp geführt, der 2020 zum „Schulstrukturfrieden“ erweitert wurde. Damit wird die Bildungsungerechtigkeit in Hamburg fortgesetzt, bilanziert Boeddinghaus.  Was in Bremen Oberschule heißt, wird in Hamburg Stadtteilschule genannt. Die Abschulungsmöglichkeit Gymnasien bleibt jedoch anders als in Bremen unangetastet und viele Kinder müssen nach Klasse 6 nach wie vor das Gymnasium verlassen und auf eine Stadtteilschule wechseln. Allein deshalb kann von gleichberechtigter Zweigliedrigkeit keine Rede sein. Auch die Inklusion übernehmen die Stadtteilschulen nahezu allein: Nur ein Bruchteil der Schüler*innen mit diagnostiziertem Förderbedarf geht auf ein Gymnasium, die überwältigende Mehrheit auf die Stadtteilschulen. Das Gymnasium bleibt also auch in der Zweigliedrigkeit ein Ort der Privilegien, und auch in Hamburg spiegelt sich die soziale Spaltung der Stadt in den Schulen wider. Zwar werden in Hamburg nun Campus-Schulen eingerichtet, in denen sich Stadtteilschulen und Gymnasien ein Gebäude  teilen, doch damit wird nur  die Zweigliedrigkeit unter einem Dach fortgesetzt, berichtet Boeddinghaus. Deshalb legte die Linksfraktion in Hamburg 2019 ein neues, inklusives Schulgesetz vor, das neue Maßstäbe für die Bildungspolitik setzen könnte. Grundlage sind die UN-Kinderrechtskonvention sowie die UN Behindertenrechtskonvention, die allen Menschen gleiche Teilhabe an Bildung garantieren. Die Eckpfeiler des Gesetzes sind Inklusion statt Ausgrenzung, ein gemeinsames Lernen im jeweils eigenen Takt. Schulen sollen ihr Konzept an einem rhythmisierter Ganztag ausrichten, die Schulentwicklung in regionaler Verantwortung liegen. Die Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs wird mit dem Gesetz abgeschafft, ebenso wie die Abschulungsmöglichkeit. Alle weiterführenden Schulen sollen unter den gleichen Vorgaben für Inklusion und Vergabe aller Abschlüsse arbeiten, die unterschiedlichen Schultypen werden gar nicht mehr thematisiert.

Gesetzlicher Rahmen und radikale Neuausrichtung der Lehrer*innenbildung nötig

Robert Gieses Bericht aus Berlin hat gezeigt: Inklusiver Unterricht funktioniert dann am erfolgreichsten, wenn Lehrkräfte motiviert und aus eigenem Antrieb das Ziel von Bildungsgerechtigkeit und gemeinsamem Lernen verfolgen. Dennoch kann auch eine Reform „von oben“ für mehr Akzeptanz von inklusivem Unterricht sorgen, wie sich in Bremen gezeigt hat. Daher muss beides zusammen gedacht werden: Einerseits muss sich die Lehrer*innenbidung verändern und Pädagog*innen an die Schulen bringen, die ein inklusives, an Gerechtigkeit orientiertes Bildungsverständnis haben. Hierbei darf es aber nicht nur um die Veränderung von Strukturen gehen, auch die Diskussion um ein diskriminierungskritisches und demokratisches Schulleben, das alle – Schülerschaft, Lehrkräfte und Eltern – miteinbezieht, ist hierfür unerlässlich. Die Lehrer*innenbildung muss sich radikal verändern, mindestens aber müssen Lehrer*innen ihre Selektionsfunktion reflektieren und für die Lebensrealität ihrer Schüler*innen, aber auch den eigenen Habitus sensibilisiert werden. Doch ohne strukturelle Veränderungen reicht Diskriminierungskritik allein nicht aus, wenn die Mehrgliedrigkeit weiter soziale Ungleichheit durch Bildungsunterschiede reproduziert und legitimiert. Die vermeintliche schulische Normalität muss gänzlich neu verhandelt werden, von der Abschaffung des sonderpädagogischen Förderbedarfs wie in Hamburg hin zu einem gesetzlichen Anspruch auf individuelle Förderung für ausnahmslos alle Kinder. Noten müssen hinterfragt und der Weg frei gemacht werden für fächerübergreifendes, projektorientiertes Lernen. Doch ohne einen gesetzlichen Rahmen, wie ihn Boeddinghaus aufgezeigt hat, bleibt die Umsetzung der Konventionen zu Kinder- und Behindertenrechten für die meisten Schüler*innen unerreicht. Solange die Gymnasien Privilegien genießen und alles, was politisch schwer vermittelbar scheint, auf die „andere“ Schulform geschoben wird, kann von Inklusion für alle keine Rede sein. Befürworter*innen des gemeinsamen Lernens sollten sich daher keine Illusionen machen: Die Zweigliedrigkeit ist kein Garant für einen weiteren Weg zur einen Schule für alle. Dennoch kann man aus Berlin, Hamburg und Bremen lernen und die großartige Arbeit, die an einzelnen Schulen geleistet wird, dafür nutzen, um Menschen vom Gedanken an eine Schule für alle zu überzeugen. Wer nach Berlin schaut, sieht: Kommen motivierte Lehrkräfte und gesetzliche Regelungen zusammen, kann eine demokratische, inklusive Schule funktionieren – und dabei sogar noch die Leistung der Schüler*innen verbessern.

 

 

 

 

 

 

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