Wer den zu Recht gefeierten Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse gesehen hat (der Freitag 36/2021), kann Lust bekommen am Lehrerberuf. Da sitzt ein Lehrer inmitten seiner 6. Klasse und tut, was der brasilianische Pädagoge Paulo Freire in seiner Pädagogik der Unterdrückten schon vor fünfzig Jahren allen Lehrern in Armutsvierteln empfohlen hat: Er nimmt die Lebenslage seiner Schüler*innen ernst, interessiert sich wirklich für deren Probleme, fragt nach, lässt nicht locker. Äußerst streng geht er vor, wenn Regeln des solidarischen Miteinander nicht beachtet werden. Dann „schmeißt er raus“, bis es ruhig ist, lässt üben, wie man still in die Klasse kommt. Fast nichts aus dem Leben der Jugendlichen bleibt ihm verborgen.

Wie ist es aber zu erklären, dass in Bachmanns Klasse sogar die Schulleistungen am Ende stimmen? Nun, er beachtet ganz einfach die Gesetze des Lernens. Beharrlich sorgt er dafür, dass jede und jeder vorankommt. Das gelingt vor allem deshalb, weil er mit der ganzen Klassengemeinschaft die kleinen Erfolge von jedem Kind hervorhebt, sie im Grunde genommen ständig „feiert“. Wo es geht, knüpft er in seinem Unterricht an das an, was die Jugendlichen durch ihre kulturelle Herkunft und ihre Lebenslage interessiert. In der Musik oder im Tanz drücken sich die Schüler*innen aus, beim freien Schreiben, beim Behauen von Steinen, beim Boxen und vor allem in intensiven Gesprächen mit Herrn Bachmann. Das macht die Jugendlichen stark.

Worin genau zeigt sich diese Stärke? Vor allem in der Solidarität. Kein Wunder, die Lebenssituation dieser Schüler ist geprägt durch Armut und Migration. Da muss man zusammenhalten – mit seiner Familie, seinen Geschwistern.

Das Gefühl zur Heimat in der Ferne, zur eigenen Kultur ist nie verloren, lebt weiter, obwohl Außenstehende meinen könnten, dass die Kinder kaum noch Verbindungen dazu haben. Großen Anteil am Erfolg der Schüler hat natürlich der Klassenlehrer selbst. Die große Kunst von Dieter Bachmann ist, dass er allen ohne Scheuklappen zuhören kann, sie verstehen und ihren Interessen wirklich Ausdruck verleihen will. Das alleine revolutioniert die pädagogische Arbeit. Bachmann sieht in jedem das Potenzial, erkennt das „Mögliche, das im Wirklichen (noch) nicht sichtbar ist“, um mit dem Inklusionsforscher Georg Feuser zu sprechen. Die Wirkung einer „Pädagogik der Unterdrückten“ entfaltet sich in der gelebten Gemeinschaft. Es wird häufig vergessen, dass Johann Heinrich Pestalozzi im Erziehungsheim und Waisenhaus eine Pädagogik umsetzte, die genau darauf basierte. Man muss diese Kinder zu Geschwistern machen, erklärte Pestalozzi seinen Erfolg.

Zu oft ist immer noch von „Ghetto-Schulen“ ohne Perspektiven die Rede. Ohne eine gute Mischung mit sogenannten besseren Schüler*innen würden diese „schlechten“ Schulen von jedem, der kann, gemieden, heißt es bei Eltern, Bildungspolitiker*innen und Wissenschaftler*innen, aber auch in den Medien. Aber stimmt das denn? Die Rede vom „anregungsarmen Lernmilieu“ muss gründlich hinterfragt werden. Viele Eltern in den Brennpunkten begrüßen eine Bündelung der pädagogischen Kräfte in einer wohnortnahen Schule – besonders dann, wenn die Schule sich den Problemen und der Erfahrungswelt der teils in Armut lebenden, höchst vielfältigen Bevölkerung widmet. Um das zu verwirklichen, sollte die personelle und räumliche Ausstattung gerecht, also am Sozialindex orientiert erhöht werden. Ungleiches muss hier ungleich behandelt werden. So halten wir es an unserer Schule in Berg Fidel. Sie geht von Jahrgang 1 bis 10. Es wird nicht eingeteilt, wer „gymnasial“ oder wer „lernbehindert“ ist.

Was uns noch auszeichnet:
• verbindlicher Ganztag für alle
•  gemischte Jahrgangsklassen mit den Jahrgängen 1 bis 3, 4 bis 6, 7 bis 9 und 10
• Arbeit von Pädagog*innen in festen, klasseneigenen Pädagogenteams
• freie Arbeit
• fächerübergreifendes Lernen in Projekten und z. B. „Herausforderungen“
• wöchentlicher Klassenrat
• zwei Räume für jede Klasse

Dieses Design einer Brennpunktschule ohne Brüche bis zum Schulabschluss ist international längst erprobt. In Deutschland sind solche Schulen zwar selten, aber deren überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit ist belegt, etwa anhand der Gemeinschaftsschulen in Berlin. Auch Lehrer wie Dieter Bachmann gibt es, wenngleich noch nicht in wünschenswerter Zahl. Paulo Freire wäre dieses Jahr hundert Jahre alt geworden. Seine Pädagogik der Unterdrückten hat uns noch viel zu sagen.
Reinhard Stähling ist Schulleiter der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist. Zusammen mit Barbara Wenders erschien von ihm 2021 im Psychosozial-Verlag: Worin unsere Stärke besteht. Eine inklusive Modellschule im sozialen Brennpunkt

 

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