Fragen des Bildungsverständnisses einer Gesellschaft waren immer und sind bis heute vom
Bildungsverständnis und den Bildungsprivilegien der herrschenden Klassen abhängig. Was und
wieviel Menschen in ihrem Leben lernen sollen, ist darum immer von den Bedürfnissen abhängig, die
Wirtschaft, Politik und tatsächliche und vermeintliche Erfordernisse, die aus gesellschaftlicher
Erwartungshaltung erwachsen, nötig zu machen scheinen. Damit aber sind sie genau auf diese auch
beschränkt. Das wird überdeckt dadurch, dass Bildungserwartungen immer schon eng mit
persönlichen Bildungsvorstellungen verbunden und identifiziert und darum auch akzeptiert werden.
Darum genießen sie eine große Akzeptanz mit allen Beschränkungen und Einschränkungen, die damit verbunden sind. Von der ebenso alten wie großartigen afrikanischen Aussage, dass es eines ganzen Dorfes braucht, um ein Kind zu erziehen, sind wir meilenweit entfernt.

Darum müssen wir zuallererst die Bedeutung von Bildung im Verständnis der menschlichen
Gesellschaft klären. Bildung ist ein Grundrecht eines jeden Menschen, wie das Recht auf Leben,
Gesundheitsschutz, Wohnen, Arbeit, Teilhabe an gesellschaftlichem Austausch und Reichtum. Es darf für niemanden und zu keinem Zweck eingeschränkt werden. Bildung ist darum keine soziale Frage, die Gewährleistung gleicher Teilhabe an Bildung aber schon. Hier kann und muss linke Bildungspolitik ansetzen (alle emanzipatorische Bildungspolitik allerdings auch). Das Recht auf Bildung ist Bestandteil der Allgemeinen Menschenrechte (Menschenrechtscharta seit 1948). Es ist ein universelles Grundrecht und Grundlage für weitere Teilhaberechte. Es darf darum nicht und zu keinem Zweck eingeschränkt werden.

Wer das Grundrecht auf Bildung gewährleisten will, muss sie darum vor allem von den derzeit
vorherrschenden Vermarktungsstrategien trennen. Das ist vor allem darum besonders schwer, weil
es sich über die Jahrhunderte durchgesetzt hat, Bildungsrechte nahezu ausschließlich aus den
überkommenen Berechtigungsstrategien her zu denken. Das sind beileibe nicht immer unsinnige
Forderungen (beispielsweise, wenn es um eine zeitgemäße und kritische Wertebildung, um
Einsichten in gesellschaftliche Entwicklungen geht usw. – das kann hier nicht alles dargestellt
werden).

Aber wir müssen verstehen, dass alle bildungspolitischen Forderungen, auch diese, dieser
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Vermarktungsstrategie unterliegen. Die
politischen Player haben ihre Strategie schon immer darauf ausgerichtet, was ihnen nützlich erschien
– und manchmal ja auch nützlich war. Wir müssen den Glauben erschüttern, dass Mensch nur lernen
soll und kann, was ihm von dieser Gesellschaft zugeteilt oder zugemutet wird.

DIE LINKE (und ihre Vorgängerpartei, die PDS) hat bereits vor Jahren in verschiedenen
Veröffentlichungen ihre Vorstellungen von moderner, emanzipatorischer und zeitgemäßer Bildung
entwickelt. In ihrer Broschüre zur Gemeinschaftsschule aus dem Jahre 2013 steht: „Freier und
gleicher Zugang zu allen Bildungsangeboten ist heute unabdingbare Voraussetzung für ein
selbstbestimmtes Leben von Menschen, für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit, für ihre Teilhabe am
kulturellen Leben und an der Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung sowie für ihr persönliches
Wohlergehen. Er muss für alle Menschen, gleich welchen Alters, und ohne Diskriminierung möglich
sein. Wir wollen für alle eine Bildung, die das vielseitig entwickelte Individuum im Blick hat, das in der
Gemeinschaft grundlegende Bedingungen für seine Entwicklung, aber auch Orientierung für seine
Entfaltung findet.“ Auch in anderen Veröffentlichungen (u.a. der Landtagsfraktion Sachsen–Anhalt,
Forum Schulbildung) aus dem Jahre 2006 sind sowohl kritische Auseinandersetzungen mit dem
aktuellen Schulsystem als auch Überlegungen zu neuen Wegen enthalten. Es lohnt sich, nachzulesen.
Wenn wir aber nicht beginnen, die alten Denkstrukturen aufzubrechen und zu einem neuen,
eigentlich notwendigen vermarktungsfreien Bildungsverständnis zu kommen, werden wir aus dem
Teufelskreis nicht herauskommen. Ein solches Bildungsverständnis kommt ohne Zertifizierungen aus.
Es orientiert sich ebenso an individuellen wie an gesellschaftlichen Erwartungen, aber nicht an
vordergründigen politischen Ambitionen. Es umfasst ein breites Bildungsverständnis aus
umfassendem Wissen ohne Einschränkungen, orientiert auf Weltverständnis und Werteverständnis.
Es ist ein zutiefst humanistisches Bildungsverständnis ohne ideologische Vorprägung und
Einschränkung. Es befördert Selbstbewusstsein und kritische Distanz gegenüber gesellschaftlichen
Entwicklungen. …

Von solchen Positionen aus können bildungspolitische Zielvorstellungen entwickelt werden.
Ohne ein solches Bildungsverständnis werden wir auf ewig im Kreislauf der Zuteilungspolitik und der
Vermarktungsideologien überkommener Bildungsziele steckenbleiben, auch wenn uns das eine oder
andere durchaus sinnvoll erscheint. Wir können den Teufelskreis nicht durchbrechen.

Rosemarie Hein, Magdeburg am 21.01.2022

Ein Gedanke zu „Für ein Bildungsverständnis jenseits von Vermarktungsstrategien. Von Rosemarie Hein“

  • knapp und präzise aus der Seele gesprochen – das Vermarktungs- aber auch das Verwertungsinteresse an Bildung muss überwunden werden – z.B. bleibt vom „Aufstieg durch Bildung“ der SPD in den meisten Köpfen nur der Aufstieg hängen, und der schafft bekanntlich weder das Tal ab (K.Klemm) noch erzeugt der Interesse an den Inhalten des Lernens

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