Am 6. Mai haben wir in Berlin über Grenzen und Möglichkeiten rassismuskritischer Schulpraxis diskutiert. Moderiert wurde die Diskussion von Songül Bitiş, die sich seit Jahren mit Diskriminierungskritik im Bildungsbereich beschäftigt. Vier spannende Podiumsgäste gaben uns einen Einblick in ihre Arbeit: Ali Yildirim, Kindheitsfreund von Ferhat Unvar, der bei dem rassistischen Anschlag in Hanau 2019 getötet wurde. In Erinnerung an Ferhat gründete seine Mutter Serpil Unvar die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, für die Yildirim als Projektkoordinator arbeitet. Die Initiative organisiert Empowerment-Workshops an Schulen und setzt sich aktiv gegen institutionellen und Alltagsrassismus ein. Denn auch Ferhat hat bereits in der Schule Rassismus erleben müssen. Yildirim betont: Es hätten nicht erst wieder 9 Menschen sterben müssen, um zu verstehen, dass Rassismus auf allen Ebenen bekämpft werden muss. Bei aller Theorie müsse es nun endlich zu konkreten Forderungen und ihrer Umsetzung in der Praxis kommen. Aus der schulischen Praxis berichtete Martina Seifert, die viele Jahre die „Green Gesamtschule“ in Duisburg leitete. Da die Schule im Stadtteil Rheinhausen liegt, wird sie oft als „Brennpunktschule“ bezeichnet – eine Kategorie, die Martina Seifert ablehnt. Als Schulleiterin war ihr immer wichtig, Begegnung statt Bewertung in den Vordergrund zu stellen. Sie ist überzeugt: Ein Schulsystem, das auf Selektion basiert und so letztlich die Reproduktion einer ungerechten Gesellschaft zum Ziel hat, kann gar nicht antirassistisch sein. Dennoch hat Seifert sich immer dafür eingesetzt, durch Projekte wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ein rassismuskritisches Bewusstsein bei Lehrer*innen und Schüler*innen zu fördern und für Betroffene einen Raum zu schaffen, in dem sie sich sicher fühlen. Doch kann es eine „Schule ohne Rassimus“ überhaupt geben?
Nein, sagt Sanem Kleff, die das bundesweit größte Netzwerk für antirassistische Arbeit an Schulen seit vielen Jahren leitet. Doch sie ist überzeugt: Jeder Moment des Austauschs ist ein Schritt nach vorne. Kleff erinnert an die Geschichte des Vereins Aktion Courage, der sich im Anschluss an eine Trauerfeier in Mölln gegründet hat – nach einem rassistischen Brandanschlag, bei dem drei Menschen getötet wurden. Das Projekt entstand aus dem politischen Aufschrei und dem Wunsch nach einer Schule, die frei ist von Menschenfeindlichkeit. Es gehe darum, ein Ziel und ein Ideal zu formulieren, das letztlich nicht nur einzelne Schulen, sondern das ganze Regelsystem verändern kann. Dabei müssen wir, so Kleff, immer auch über Klassismus sprechen. Denn Rassismus und die Abwertung aufgrund der sozialen Herkunft bedingen sich oft gegenseitig. Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, betont aus der Gewerkschaftsperspektive die Rolle, die dabei der deutsche Staat spielen muss: Nur wenn Lehrkräfte ausreichend Zeit zur Verfügung haben, wird es gelingen, antirassistische Arbeit zu machen. Bildung ist das, was wir Rassismus entgegenstellen können, so Finnern. Dabei sieht sie den Bund und die Länder in der Verantwortung, bundesweit Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Lehrer*innen ermöglichen, sich selbst weiterzubilden und auf ihre Schüler*innen einzugehen. Essentiell hält Maike Finnern dabei Änderungen in der Lehrer*innenarbeitszeit. Denn nur wenn genug Zeit dafür ist, kann es gelingen, sich mit der gesamten Schulgemeinde – Lehrkräften, Schüler*innen und Eltern – zu fragen: Wie gehen wir mit Rassismus an unserer Schule um? Was wollen wir ändern? Ein solches Konzept zu entwickeln und auch zu leben, das dauert, so Finnern. Aktuell erlebten wir jedoch ein System unter Hochdruck, in dem viele Beschäftige das Gefühl haben, dass sie kaum Zeit haben, sich den entscheidenden Fragen zu widmen. Martina Seifert kennt dieses Problem. Sie und ihr Kollegium haben sich ganz bewusst für ein Schulkonzept entschieden, das auf Kooperation und Teamarbeit setzt. Dafür wurde die Schule im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Wichtig sei, dass sich Lehrer*innen ihrem eigenen Alltagsrassismus bewusst werden. Seifert fordert einen solidarischen Aufbruch im weitesten Sinne: Das Schulsystem ist im Wesentlichen seit 100 Jahren unverändert. Immer noch werden Lehrkräfte nach der Anzahl der Stunden bezahlt, die sie geben, es herrscht eine große Verzweiflung unter den Beschäftigten und ein Gefühl von Atomisierung. Was wir brauchen ist eine Schule, die jenseits von Fächern und Noten wichtige gesellschaftliche Themen in jedem Unterricht in den Vordergrund stellt, so Seifert. Wir müssten Kinder so begleiten, dass sie Einfluss nehmen und handeln können in dieser Gesellschaft. Dafür müssten auch die Grundschulzuweisungen auf den Prüfstand, die stark von Rassismus geprägt seien.
Sanem Kleff stimmt zu: Der Auftrag an die Institution Schule müsse weniger sein, die Kinder fit für den Arbeitsmarkt zu machen, und vielmehr sie zu stärken, ihnen Werte und Haltungen zu vermitteln und das soziale Lernen in den Mittelpunkt zu stellen. Schüler*innen so zu bilden, dass sie zu eigenständigen, selbstbestimmten und demokratischen Individuen werden – darum müsse es gehen. Interessanterweise steht das auch in jedem Schulgesetz, so Kleff. Dafür müsse die Kommunikation zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen auf Augenhöhe ablaufen und eine Philosophie der Gleichwertigkeit aller Menschen leitend sein. Ein Schulsystem ist entweder ex- oder inkludierend, und von einem inklusiven Schulsystem sind wir weiterhin weit entfernt.
Ali Yildirim greift Kleffs Forderung auf und betont: Wir müssen das große Ganze sehen. Aber wenn es um die schulische Bekämpfung von Rassismus geht, fehle oft die Ernsthaftigkeit. Der Kampf gegen Rassismus kann nicht bloß eine Projektwoche sein. Antirassistische Bildung müsse fester Bestandteil des Lehrplans sein. Die Bildungsinitiative setzt sich dafür ein, dass Rassismuskritik mehr ist als nur ein Banner, mit dem sich eine Schule schmücken kann. Eine „Schule ohne Rassismus“ zu postulieren, so Yildirim, ist reine Symbolpolitik. Daher sei das auch ein fragwürdiges Ziel: Eine Schule gegen Rassismus, ja, die könne es geben. Dafür brauche es jedoch Facettenreichtum und Antirassismus als festen Bestandteil des Lehrplans. Dabei dürfe die Behandlung von Rassismus in der Schule nicht nur auf den Nationalsozialismus beschränkt werden. Er habe in der Schule nicht gelernt, was der NSU ist. Erst nach dem Anschlag am 19. Februar sei ihm klargeworden, wie viele Anschläge es zuvor bereits in Deutschland gab. Dabei habe es sogar erst kurz vor dem Anschlag in Hanau einen weiteren Anschlag gegeben: Das Attentat von Halle. Doch meist werde nach einer Woche Aufschrei schon nicht mehr darüber geredet.
Die Workshops der Bildungsinitiative würden oft von Schüler*innen initiiert und seien bewusst interaktiv gestaltet. Wichtig sei, dass die Betroffenenperspektive in der Bildungsarbeit eine Rolle spielt – es müsse ein Raum eröffnet werden, der den Schüler*innen in der Schule oft fehlt. Es mache einen Unterschied, ob die Leute, die etwas über Rassismus erzählen, auch selbst Rassimus erlebt haben. Doch wie sehen eigentlich die Konsequenzen aus, wenn Lehrkräfte sich rassistisch verhalten?
Auch sein Freund Ferhat habe Beleidigungen durch Lehrkräfte erlebt, ohne dass es Konsequenzen gegeben hätte. Es können nicht sein, dass Lehrkräfte den Druck einfach an Schüler*innen weitergeben. Yildirim fordert externe Beschwerdestellen, an die sich Schüler*innen wenden können. Extern müssten die Stellen sein, damit sie nicht in die Machtstrukturen innerhalb der Institution Schule eingebunden sind. Auch die Benotung spiele eine große Rolle. Yildirim selbst habe in der 4. Klasse ein sehr gutes Zeugnis gehabt und hatte bessere Noten als einige seiner Mitschüler – am Gymnasium angenommen wurde er, anders als seine Mitschüler*innen mit ‚deutschem‘ Namen, jedoch nicht. Ihm wurde gesagt, er solle sich doch eine Gesamtschule oder Hauptschule suchen. Um Chancengleichheit in der Schule zu realisieren, brauche es mehr als die Arbeit von Initiativen, die nach tödlichen Anschlägen gegründet wurden. Wo sind die ganzen Bildungsministerien in dieser Frage? Diese Leute hätten die Entscheidungsgewalt. Einen Tag vor der Podiumsdiskussion war die Bildungsinitiative bei Bundeskanzler Olaf Scholz zu Gast, berichtet Yildirim. Direkt nach dem Gespräch habe er gedacht: Das wird auch nicht viel verändern. Sie können noch so oft sagen, dass sie mich verstehen, sie können mich nicht verstehen, das ist den Leuten nicht klar, weil zu wenig zugehört wird. Wir lebten in einer Gesellschaft, die auf Egoismus basiere und Themen, die einen nicht selbst betreffen, oft als uninteressant gelten. Um Empathie zu wecken, bräuchte es Berührungspunkte. Nur so könne Kommunikation gelingen. Dafür müsse sich die Mehrheitsgesellschaft mit Rassismus auseinandersetzen – nicht nur eine antifaschistische und antirassistische linke Bubble. Ein weiteres Problem sieht Yildirim in der Zuteilung der Gelder: Es können nicht sein, dass die Initiativen und Programme die es gibt um ein Stück Kuchen kämpfen muss. Wenn wir schon die Arbeit machen, die der Staat machen müsste, so Yildirim, dann soll der Staat bitte wenigstens die Mittel zur Verfügung stellen, damit wir das ordentlich machen können.
Kleff weist darauf hin, dass trotz aller Probleme nicht von Stillstand die Rede sein könne. Sie kämpfe seit Jahrzehnten in diesem Schulsystem – erst als Schülerin, dann als Lehrerin und als Gewerkschafterin – und habe selbst gesehen, wie viel sich verändert habe. Als das Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gegründet wurde, habe es schlicht keine Initiative gegeben, die Schulen mit antirassistisch qualifizierten Teamer*innen in Kontakt bringen konnte. Die Aufgabe von SOR-SMC sieht sie daher vor allem in der Vernetzungsarbeit. Inzwischen gebe es 130 Koordinierungsstellen in ganz Deutschland. Aber natürlich müsse das Ziel weiter sein, das ganze System in eine neue Richtung zu schieben. Dennoch habe man oft das Gefühl, als würde sich nichts verändern, bestätigt auch Moderatorin Songül Bitiş. Als Kind sei sie noch in eine „Rückführungsklasse“ geschickt worden. Die Kinder von Gastarbeiter*innen sollten zwar gebildet werden, aber nur als Gäste, die Deutschland wieder verlassen sollten. Im Jahr 2015 habe man dieses Konzept, nun „Willkommensklasse“ genannt, wieder eingeführt. Da habe man schonmal das Gefühl von Frustration. Gleichzeitig macht Bitiş stark, wie viel mehr Wissen es inzwischen über Rassismus gebe. Vor vielen Jahren habe sie noch viel über Interkulturalität sprechen müssen und das Wissen über strukturellen Rassismus, das uns heute selbstverständlich vorkomme, war nicht vorhanden. Es bewege sich zwar etwas, aber die Emotion der Wut teile sie. Es komme darauf an, diese Wut als Motor zu nutzen, um weiter voranzukommen. Doch wie ändern wir Strukturen?
Ja, es geht um die Arbeit von vielen Einzelnen. Aber was braucht es noch, um an den rassistischen Strukturen in der Schule zu rütteln? Richtig wählen würde schonmal helfen, so Kleff. Martina Seifert betont, dass dafür die Kernstruktur der Schule verändert werden müsse: Weg von der unsinnigen Zeittaktung in 45 Minuten Blocks, die noch aus einer Zeit käme, in der alle 45 Minuten gebetet werden sollte. Die Schüler*innen müssten in ständige Kollaboration gebracht werden, um ein Kennenlernen unter den Schüler*innen als Grundlage für gemeinsames Lernen vorzubereiten. So entsteht ein Gefühl von Solidarität in einer Klasse, das sich sehr davon unterscheidet, wie sich Schüler*innen im Frontalunterricht fühlen würden. Darin stecke bereits das Autoritäre als Resultat einer konservativen Bildungsadministration. Wie kann es also gelingen, dass das Potenzial, das in der Schule da ist, genutzt bleibt? Sei es durch das Einklinken in bestehende Bewegungen, die Umbenennung von Straßen oder der Blick auf die Kompetenzen, die Schüler*innen mitbringen. Es gehe dabei immer auch darum, Emotionen zu wecken. Dafür sei vor allem ästhetische Bildung – zum Beispiel in Form von Musik oder Theater – geeignet. Alles, was der Bildungsadministration in NRW mit Bildungsministerin Yvonne Gebauer zurzeit in bildungspolitischen Fragen einfalle, sei jedoch offenbar Luftfilter für Schulen anzuschaffen. Seifert verweist auf die Erkenntnisse des Bildungssoziologen El Mafaalani: Die, die bereits an den Fleischtöpfen sitzen, die bleiben darin, und die, die es bitter nötig hätten, die werden links liegen gelassen. Hier müsse man Politiker*innen in die Verantwortung nehmen.
Worin besteht denn der Auftrag von Schule?, fragt Sanem Kleff. Aus konservativer Perspektive stünden in der Bildungspolitik eben nicht Ziele wie Solidarität, Selbstwirksamkeitserfahrungen, sich als politische Akteur*in in der Kommune zu erleben und politischen Widerstand zu leisten im Vordergrund. Allein zu sagen, man sei gegen Noten, führe in der Regel zu einem Aufstand. Sie werde seit Jahren entweder als Gutmensch, als Lari-Fari-Pädagogin oder gleich als linksextrem diffamiert, obwohl die Sinnhaftigkeit von Benotung seit Jahrzehnten wissenschaftlich infrage gestellt wird. Was ist denn mit der Idee von 10 Jahre gemeinsamer Beschulung? Mit einer Schule für alle? Wenn es um Rassismus gehe, sei aber eben auch das Thema Klasse wichtig. Der Sohn eines japanischen Architekten in München habe eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, aufs Gymnasium zu kommen. Klasse verbindet Menschen unterschiedlicher Herkunft, und die Solidarität rund um Klassenungerechtigkeiten müsse ganz vorne stehen, damit wir Diskriminierungen bekämpfen können. Sonst werden wir auseinanderdividiert, so Kleff. Maike Finnern pflichtet bei: Antirassmusarbeit müsse in die Strukturen reingehen, um zu verhindern, dass es bei Symbolpolitik bleibt. Wenn sich Schulen um das Label „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ bewerben, dann gebe es häufig ein hohes Engagement auf dem Weg dorthin, und dann breche wieder der Alltag ein. Wir bräuchten eine regelhafte Auseinandersetzung mit Rassismus, denn der Gedanke einer „Schule mit Courage“ werde nicht immer auch gelebt. Damit sich das ändert, dürfe die Antirassismusarbeit an Schulen nicht an Einzelnen hängen und enden, sobald die engagierte Geschichtslehrerin in Rente geht, pflichtet Kleff bei. Irgendwann seien Leute auch einfach müde und ausgebrannt. Yildirim stimmt zu: Es könne nicht sein, dass am Ende alle einen Burn-Out bekommen. Die Arbeit müsse auf viele Schultern verteilt und vor allem ausreichend finanziert werden. Nur so können psychische Ressourcen professionell und mit Bedacht eingesetzt werden.
Maike Finnern unterstreicht die Rolle von Schulleitungen, wenn es darum geht, eine ganze Schule diskriminierungskritisch auszustellen. Schulleiterin Martina Seifert widerspricht: Das Glaube daran, dass Schulleiterinnen ihre Schulen tatsächlich leiten, sei ungefähr so wie die Vorstellung, Zitronenfalter würden Zitronen falten. Um eine Schule zu verändern, brauche es ein ganzes Team. An ihrer Schule sei beispielsweise ein Teammodell entwickelt worden, in dem kaum zwischen Schulsozialarbeiter*innen, Sonderpädagog*innen und Lehrkräften unterschieden worden. Seifert sieht eine wichtige Möglichkeit zur Veränderung in der Lehrer*innenbildung: Studierende würden zwar lernen, wie sie die perfekte Stunde konzipieren, aber was genau dort unterrichtet wird, dass das teilweise einfach dummes Zeug sei – dafür müsse ein Bewusstsein geschaffen werden. Angehende Lehrer*innen müssten sich fragen: Was treibt mich eigentlich an? Was will ich in der Schule verändern? Man müsse auch biographisch mit Studierenden arbeiten und ihre eigenen Ausgrenzungserfahrungen aufgreifen: Als Betroffene von Rassismus, aber auch als rassistisch Sozialisierte. Kleff betont: Professionelle Lehrkräfte müssten nach dem Studium in der Lage sein, Rassismus zu erkennen und zu benennen – nur so ist es möglich, dass Rassismuskritik zum Teil ihres schulischen Alltags wird.