ÖKONOMISIERUNG SCHULISCHER BILDUNG. ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Ökonomisierung schulischer Bildung

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Dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich nur dann verlässlich digital vernetzen können, wenn sich ein Förderverein, ein Landrat oder eine Schulsenatorin für eine zeitgemäße IT-Infrastruktur eingesetzt haben, wirft dunkle Schatten auf die „Bildungsrepublik Deutschland“. Wenn aber nun Bildungspolitiker*innen gleich welcher Couleur in eine öffentlichkeitswirksam begleitete Digitalisierungseuphorie verfallen, indem sie uns glauben machen wollen, mit dem 5,5 Milliarden Euro schweren „DigitalPakt Schule“ sei der Weg aus der Bildungsmisere gefunden, irren sie. Wollen wir wieder zum Land der Dichter und Denker werden, gilt es zahlreiche weitere schulpolitische Aspekte zu bedenken.

Welche das sind, zeigt die vorgelegte Studie von Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Direktor der dortigen Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung, mit einem Blick auf Tendenzen der Ökonomisierung im deutschen Schulwesen. Anhand der Aktivitäten von Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft als den „Big Five“ weist er nach, dass die Digitalkonzerne mit noch größerem Nachdruck in die Schulen drängen, um ihre Produkte zu vermarkten. „Die Digitalisierung der Schulen ist bislang eher von ökonomischen Interessen als von pädagogischen Konzepten geprägt, weshalb abzuwarten bleibt, ob der milliardenschwere ,DigitalPakt Schule‘ Lehrenden und Lernenden das Lehren und Lernen wirklich erleichtern wird.“ Bislang drohe die Digitalisierung der Bildungswelten mangels rechtlicher Rahmensetzungen durch die Schul-, Bildungs- und Kultusministerien zum Einfallstor für Unternehmensinteressen zu werden. Es wird aufgezeigt, dass die Digitalisierung der Schulen bislang eher von ökonomischen Interessen als von pädagogischen Konzepten geprägt ist, weshalb abzuwarten bleibt, ob das milliardenschwere Programm Lehrenden und Lernenden das Lehren und Lernen wirklich erleichtern wird.

Nahezu unbemerkt von der medialen Öffentlichkeit wartet inzwischen eine Vielzahl unternehmensnaher Stiftungen mit für die Teilnehmenden in der Regel kostenlosen, meist mehrtägigen Lehrerfort- und -weiterbildungen auf, die die vielfach kostenpflichtigen Angebote von Hochschulen, Ministerien und ihnen nachgeordneten Einrichtungen überstrahlen. Wenigstens zwei Dutzend Schulbuchverlage, Stiftungen und Verbände halten Weiterbildungsmöglichkeiten vor.

Am Beispiel der führenden Nachhilfeinstitute wird aufgezeigt, welche vielfältigen Angebote auf diesem «Bildungsmarkt» für inzwischen jedes vierte schulpflichtige Kind vorgehalten werden. Der Autor der Studie, Prof. Dr. Tim Engartner, führt aus, dass der Aufstieg dieser außerschulischen Lernorte sowohl in dem Versagen des staatlichen Schulsystems begründet liegt, als auch mit den ausgesprochen vielfältigen Angebotsstrukturen der Institute zu erklären ist. Anhand ausgewählter bildungspolitischer Diskurse zeigt die Studie, dass die Debatte um «Schulzeitverkürzung » nach den Vorgaben des achtjährigen Gymnasiums (G8), die Expansion ökonomischer Bildung in den Stundentafeln und die curriculare Aufwertung der auf Arbeitsmarktrelevanz zielenden Berufsorientierung als Ausdruck der Ökonomisierungstendenzen im Schulsystem zu deuten sind. Zwar kann die Frage, wie es ausgerechnet im Land der Dichter*innen und Denker*innen zu einer derart radikalen Abkehr von Allgemeinbildungsansprüchen kommen konnte, nach wie vor nicht erschöpfend beantwortet werden. U. a. zeigt die vorliegende Untersuchung anhand von 59 geforderten und teilweise neu eingeführten Unterrichtsfächern, dass Schul-, Bildungs- und Kultusministerien inzwischen die Verwertbarkeit von Bildung immer häufiger zum Maßstab schulischer Lehr- und Lernprozesse erklären.

Die Studie beleuchtet insofern nicht nur Gesetzmäßigkeiten und Glaubensbekenntnisse, die der Ökonomisierung schulischer Bildung hierzulande den Weg geebnet haben, sondern analysiert zugleich deren Ursachen, wie zum Beispiel die chronische Unterfinanzierung des Schulsystems, die ihren Niederschlag in baufälligen Schulgebäuden ebenso findet wie in dem grassierenden Mangel an (professionell ausgebildeten) Lehrkräften. Die Kritik am Zeitgeist, der Bildung mit individuellen Preisen statt mit gesellschaftlichen Werten belegt, wird mit Positivbeispielen (z. B. von ausgewählten Schulen) konstruktiv gewendet und schließlich in acht schulpolitischen Forderungen überführt.

 

 

Autor der Studie ist Prof. Dr. Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor der dortigen Akademie für Lehrerbildung.

 

3 Gedanken zu “Ökonomisierung schulischer Bildung. Analysen und Alternativen – Tim Engartners Studie steht im Netz”

  • Zu Ökonomisierung schulischer Bildung:
    In der Schule treffen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen sozialen Schichten zusammen, lernen sich kennen und akzeptieren. Sie erhalten hier Anregungen für Interessen, Wissen, Kompetenzen für das weitere Leben ohne Zeitdruck. Nie mehr danach werden die allermeisten Schüler für sie kostenfrei mit vielen verschiedenen Wissensdisziplinen bekanntgemacht werden wie hier. Die nächsten Bildungsstufen der Schüler sind ihre spezifische Berufsausbildung und ggf. ihr Studium. Für Berufsschüler gibt es dann kaum mehr Gelegenheit, sich mit sog. sachfremden Fächern oder Themen zu beschäftigen, weil meist Tippgeber, Zeit und Lust fehlen. Gleiches gilt für Studenten, auch bei ihnen ist Zeit schon Geld. Neben ihren Studienfächern nur so zum Vergnügen andere als ihre Vorlesungsfächer zu besuchen, das tun und leisten sich die Wenigsten. Wer Keime von weitergehenden Interessen in sich trägt, kann und wird sie kultivieren. Wo, wenn nicht in der allgemeinbildenden Schule, sollen diese Keime in junge Menschen gelegt und von ihnen gepflegt werden?
    Ich bin für die 10- bzw. 13-jährige Schulzeit mit einem breiten Angebot an allgemeinbildenden Fächern für alle Schüler. Schon auf der nächsten Party und beim Einstellungsgespräch(!) sind flüssige Konversation und geistvoller Humor gefragt – beide brauchen einen Fundus von vielerlei Stoff und Gedanken im Kopf.

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